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Wie gut halten Autofahrende Abstand zu Radfahrenden? Ein Selbstversuch in Berlin.

16. Juni 2023
5 Minuten

Es ist kurz vor Mittag im Norden Berlins. Die Sonne kämpft sich durch die Wolken. Der morgendliche Berufsverkehr ist vorbei. Trotzdem herrscht auf den Straßen der Hauptstadt reger Verkehr. Autos, Lieferwagen, Fahrräder, Motorräder, E-Scooter und zu Fuß Gehende. Und ich mit meinem Fahrrad mittendrin. Wir alle teilen uns das weit verzweigte Netz aus Straßen, Geh- und Radwegen. Und das ist nicht immer ungefährlich. Vor allem Radfahrerinnen und Radfahrer in Großstädten beklagen, dass sie von Autofahrenden mit zu geringem Abstand überholt werden. Ich mache für „Runter vom Gas“ den Test: Halten sie den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Metern zu Radfahrenden ein?

Aber wie finde ich heraus, was ein "richtiger Abstand" oder was „zu nah“ ist? Um aussagekräftige Zahlen zu bekommen, die nicht nur auf meinem Gefühl beruhen, benutze ich den „OpenBikeSensor“ (OBS) der Technischen Hochschule Wildau. Mit dem Messgerät untersuchen die Forschenden den Zusammenhang von Überholabständen und der Straßeninfrastruktur und die Auswirkungen auf das subjektive Sicherheitsgefühl. Der Sensor selbst hängt unter meinem Fahrradsattel und misst den Abstand zu vorbeifahrenden Fahrzeugen. Ausgestattet mit einem GPS-Modul und winzigen Ultraschallsensoren ermittelt der OBS permanent den Standort meines Fahrrads sowie den Abstand zu anderen Objekten rechts und links von mir. Über einen roten Knopf am Lenker kann ich Überholvorgänge registrieren und die Abstände zwischen den überholenden Fahrzeugen und mir messen.

Meine Reise beginnt in Prenzlauer Berg. Zunächst läuft alles gut. Ich fahre sicher auf Radwegen, die von der Straße getrennt sind. Nur ein Transportwagen blockiert den Radweg. Ich muss ausweichen: Eine Situation, die viele Großstadtradlerinnen und -radler kennen. Je näher ich der Kreuzung am Prenzlauer Tor komme, desto schmaler wird der Weg. Wo einst eines der nördlichen Stadttore thronte, kommt heute zum ersten Mal der kleine Kasten unter meinem Sattel zum Einsatz.

Auf dem Display erscheinen die Abstände: 1,06 Meter, 84 Zentimeter, 2,01 Meter. Bei zwei von diesen drei Überholvorgängen unterschreiten die Autofahrenden also den gesetzlich vorgeschriebenen Seitenabstand von 1,5 Metern.

Weiter geht’s nach Friedrichshain

Auf der Straße, die mich über den zentral gelegenen Alexanderplatz in Richtung Friedrichshain führt, gibt es weder Radweg noch Schutzstreifen für den Radverkehr. Dafür ist auf diesem Abschnitt der Bussonderfahrstreifen für Radfahrende freigegeben. Genug Platz also für mich. Es folgen ein Schutzstreifen und Überholvorgänge zweier Autos: Beide liegen mit einem Abstand von 1,3 Metern knapp unter dem Limit.

In Friedrichshain angekommen, überholen mich immer mehr Fahrzeuge. Mal sind die Abstände im grünen Bereich, mal fahren die Autos mit 1,46 und 1,29 Metern etwas zu dicht an mir vorbei, obwohl es hier einen Schutzstreifen gibt. Auf der Lebuser Straße dann der erste zweistellige Abstand: Mit nur 81 Zentimetern fährt ein silberner Kombi an mir vorbei. Nicht ungefährlich. Eine unbedachte Lenkbewegung oder ein plötzliches Hindernis auf dem Radweg und wir wären zusammengestoßen.

Danach kann ich mich entspannen und die Radtour genießen: Ich fahre die Karl-Marx-Allee in Friedrichshain entlang, eine der Prachtstraßen der ehemaligen DDR. Hier ist der Radweg baulich komplett vom Autoverkehr getrennt und verläuft rechts neben den parkenden Autos. Überholmanöver oder plötzlich geöffnete Autotüren stellen durch die ausreichende Distanz keine Gefahr dar. Paradiesische Zustände für Radfahrerinnen und Radfahrer.

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Per Knopfdruck am Lenker können Radfahrende den Seitenabstand messen.
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Der „OpenBikeSensor“ wird unter dem Sattel befestigt. Mit einem GPS-Modul und Ultraschallsensoren versehen, ermittelt er bei Überholvorgängen den genauen Standort sowie den Abstand zwischen Fahrrad und Fahrzeug.
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Per Knopfdruck am Lenker können Radfahrende den Seitenabstand messen.
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Der „OpenBikeSensor“ wird unter dem Sattel befestigt. Mit einem GPS-Modul und Ultraschallsensoren versehen, ermittelt er bei Überholvorgängen den genauen Standort sowie den Abstand zwischen Fahrrad und Fahrzeug.

Nächster Halt: Kreuzberg

Weiter nach West-Berlin. Ich bin auf einem Radfahrstreifen unterwegs. Das dichte Vorbeifahren der Autos bereitet mir ein mulmiges Gefühl. Die Messungen zeigen mir den Grund: Vier von fünf Fahrzeugen halten weniger als 1,5 Meter Abstand. Dann wird es plötzlich eng. Direkt vor mir springt eine Ampel auf Gelb und ich bremse. Im selben Moment höre ich hinter mir einen Motor aufheulen. Zwei Autos brausen über die gelbe Ampel und sehr dicht an mir vorbei. Ein roter Kleinwagen hält kaum einen Meter Abstand.

Ich bin in der Manteuffelstraße in Kreuzberg angekommen. Hier gibt es keinen Radweg und zu meinem Leidwesen hat der Verkehr zugenommen. Ich werde achtmal überholt, davon nur zweimal mit ausreichendem Sicherheitsabstand. Plötzlich schlängelt sich ein Lieferwagen mit nur 46 Zentimetern Abstand an mir vorbei. Ich müsste nicht einmal den Arm ausstrecken, um das Auto zu berühren. Ich spüre den Fahrtwind im Nacken und lenke instinktiv etwas nach rechts. Ich fühle mich beengt. Der Fahrer merkt nichts, er fährt seelenruhig weiter.

Seitenabstand im Straßenverkehr: diese Mindestabstände gelten für Autofahrende

1,5 Meter – so groß muss die Entfernung beim Überholen von Radfahrenden, zu Fuß Gehenden und Elektrokleinstfahrzeugen wie E-Scootern laut Straßenverkehrsordnung (StVO) innerorts mindestens sein. Wenn ein Kind auf dem Fahrrad überholt wird, sind mindestens 2 Meter erforderlich. Außerorts liegt der verpflichtende Mindestabstand zur Seite grundsätzlich bei 2 Metern. Gemessen wird die Distanz von der rechten Außenkante des Kfz bis zur linken Außenkante des Fahrrads, also etwa vom Seitenspiegel des Autos bis zum Lenkerende des Fahrrads.

Solveig Selzer, politische Referentin des ADFC Berlin, erklärt zu Vorfällen wie diesem: „Kfz-Fahrende machen sich oft nicht bewusst, wie bedrohlich diese Situation für Radfahrende wirkt und welcher Gefahr sie diese damit aussetzen.“ Abstandsunfälle werden in der Unfallstatistik zwar erfasst, es gibt jedoch keine Aufschlüsselung, welche und wie viele Verkehrsmittel beteiligt waren.

In der Oranienstraße habe ich keine Zeit zum Verschnaufen. Die Straße ist eng, ich habe wenig Platz. Rechts und links nehmen parkende Autos viel Raum ein. Vorsichtig taste ich mich an den geparkten Fahrzeugen vorbei, den Verkehr hinter mir und die stehenden Autos vor mir immer im Blick.

Dann passiert es wie aus dem Nichts: Plötzlich zieht ein Autofahrer aus dem Gegenverkehr auf meine Spur, um zu wenden. Gerade noch rechtzeitig können wir beide bremsen. Der Fahrer schaut mich erschrocken an, vollendet den Wendevorgang und fährt zügig davon. Mein Herz rast, ich muss am Straßenrand anhalten und eine Pause einlegen. Ich kann mich jetzt nicht auf den Verkehr konzentrieren.

Die Situation zeigt, dass nicht nur von hinten herannahenden Fahrzeugen eine Gefahr ausgehen kann. Jedes unvorhergesehene Manöver, sei es von mir selbst oder von anderen, birgt ein Risiko.

An der Ampel kann es eng werden

Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, setze ich den Selbstversuch fort. Weiter geht’s, wieder zurück Richtung Zentrum. Unterwegs überholen mich einige Autos, aber keines mit genügend Platz. Auf dem Weg zur Spandauer Straße, wo das berühmte Rote Rathaus und der Fernsehturm stehen, gibt es keinen Radweg. Ich teile mir die Spur mit Bussen und Taxis. Wieder hält nur etwa die Hälfte der Autofahrenden genügend Abstand.

Eine Beobachtung, die ich immer wieder machen muss: Je näher ich an eine Kreuzung fahre, desto weniger Platz bleibt mir. An der Ampel stehen die Autos sehr dicht neben mir. Ich kann die Abgase riechen und die Gesichter der Fahrerinnen und Fahrer genau erkennen. Auch wenn es sich für viele Fahrradfahrende seltsam anfühlen mag, der geringe Abstand, den Autos und Fahrräder hier zueinander haben, hat hier durchaus seine Richtigkeit. Die Straßenverkehrsordnung (StVO) besagt: Wenn Radfahrerinnen und Radfahrer an Kreuzungen oder Einmündungen neben wartenden Fahrzeugen halten, gelten die Regeln für den Seitenabstand nicht.

Radweg, Schutzstreifen, Radfahrstreifen: Was ist der Unterschied?

Radwege sind baulich von der Fahrbahn getrennt und in der Regel gut ausgebaut. Sie sind durch ein rundes blaues Schild mit weißem Fahrradsymbol (Verkehrszeichen 237) gekennzeichnet. Radfahrerinnen und Radfahrer müssen diese Wege benutzen.

Radfahrstreifen sind Radwege, die auf der Fahrbahn angelegt sind und durch eine durchgezogene Linie gekennzeichnet werden. Das bedeutet, dass Autofahrerinnen und Autofahrer die Linie und den Bereich für Radfahrerinnen und Radfahrer nicht überfahren dürfen. Zwar ist hier kein Mindestabstand von 1,5 Metern vorgeschrieben, dennoch müssen Fahrende sich an das allgemeine Gebot der Rücksichtnahme und das Gefährdungsverbot halten.

Im Gegensatz zu Radwegen und Radfahrstreifen sind Schutzstreifen Teil der Fahrbahn. Sie sind durch eine gestrichelte Linie gekennzeichnet, was bedeutet, dass Autofahrende den Schutzstreifen bei Bedarf und mit besonderer Vorsicht befahren dürfen, sofern sie den Radverkehr nicht gefährden. Dies ist nur in besonderen Situationen erlaubt, z. B. um dem Gegenverkehr auszuweichen. Das Halten und Parken auf einem Schutzstreifen für Radverkehr ist verboten.

Auf dem Weg durch das Scheunenviertel zurück Richtung Prenzlauer Berg der nächste Schreck. Ein Busfahrer hält an und schneidet mir den Weg ab. Ich habe ihn nicht bemerkt und kann gerade noch bremsen. Ich fahre weiter meinem Ausgangspunkt in Prenzlauer Berg entgegen, immer wieder überholen mich Autos: 1,1 Meter, 87 Zentimeter, 42 Zentimeter. Die Abstände scheinen immer kleiner zu werden, über 1,5 Meter kommt hier fast niemand mehr. Gestresst steuere ich meinem Ziel entgegen.

Zurück am Wasserturm steige ich vom Rad und nehme den Helm ab. Es war alles andere als eine entspannte Fahrt. Aber ich bin froh, dass alles gut gegangen ist.

14 Kilometer durch Berlin – meine Bilanz

Stellenweise lief es gut. Auf den baulich getrennten Radwegen fühlte ich mich sicher. Vor allem dort, wo ich mir die Fahrbahn mit Autofahrenden teilte, kam ich immer wieder in kritische Situationen. Mal fuhren Autos mit 1,3 Metern, mal mit 80 Zentimetern und in einigen Fällen sogar nur mit etwas mehr als 40 Zentimetern an mir vorbei. Das waren nicht nur nervenaufreibende, sondern auch gefährliche Momente. Die Regeln für den Seitenabstand wurden von vielen ignoriert. Vor allem an Kreuzungen wurde es eng. Auch als passionierte Radfahrerin kann ich verstehen, warum nicht jede oder jeder sich auf dem Rad sicher fühlt.

Der gesetzliche Mindestabstand wird etwa bei jedem zweiten gemessenen Überholvorgang unterschritten […].

Die Auswertung meiner Daten zeigt: Bei mehr als 50 Prozent der Überholvorgänge haben Autofahrende den Seitenabstand nicht eingehalten. Diese Erfahrung deckt sich mit den Erkenntnissen des OBS-Projekts: „Der gesetzliche Mindestabstand wird etwa bei jedem zweiten gemessenen Überholvorgang unterschritten, also im Durchschnitt etwa alle 1,8 Kilometer einer Fahrradfahrt“, sagt Simon Metzler, Laboringenieur für Radverkehr an der Technischen Hochschule Wildau.

Gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern aus der Region hat das Forschungsteam von Juni bis September 2022 die Überholabstände beim Radfahren gemessen. „Mit den Daten können Gefahrenstellen im Brandenburger und Berliner Straßenverkehr identifiziert und subjektive Einschätzungen mit objektiv erfassten Daten verglichen werden“, erklärt Metzler. Dabei gehe es nicht darum, Autofahrerinnen und Autofahrer zu diskreditieren. Vielmehr soll das Projekt für zu nahe Überholvorgänge sensibilisieren. Denn Radfahrende sind als schwächere Verkehrsteilnehmende besonders gefährdet. Damit alle sicher ankommen, ist ein Abstand von 1,5 Metern unerlässlich.

Bilder: Lucas Wahl, ADFC Brandenburg, TH Wildau, OpenMapTiles, OpenStreetMap contributors