Sich tief in die Kurve zu legen, fällt nicht allen Motorradfahrenden leicht. Eine Studie hat die weit verbreitete „Schräglagenangst“ untersucht. Experten erklären, wie man damit umgeht
Eine Schrecksekunde, die viele Menschen, die gern mit dem Motorrad unterwegs sind, schon selbst erlebt haben: Bei der Fahrt durch die Kurve merkt man, dass man die eigene Geschwindigkeit und den Kurvenradius falsch eingeschätzt hat, oder es taucht plötzlich ein Hindernis auf. Jetzt entscheidet das fahrerische Können darüber, ob ein Unfall vermieden werden kann. Denn wer in einer Kurve zum Ausweichen gezwungen wird, riskiert durch eine falsche Reaktion, von der Straße abzukommen oder in den Gegenverkehr zu geraten. Nur wer sicher auszuweichen und gegebenenfalls zu bremsen vermag, kann die riskante Situation bewältigen. Wie souverän man sich in dieser Situation verhält, hängt nicht zuletzt an der eigenen Kurventechnik – und das führt uns zum Thema: Schräglagenangst.
Forschende messen die Schräglagenschwelle
Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat untersucht, welche Rolle dieses Phänomen beim Motorradfahren spielt – sowohl im Alltag als auch in Gefahrensituationen. Ausgangspunkt war die Hypothese, dass alle Motorradfahrenden eine „Schräglagenschwelle“ haben: Sie lehnen sich nur bis zu einem bestimmten Neigungswinkel in die Kurve und haben eine Hemmung, sich tiefer hineinzulegen, obwohl dies physikalisch gefahrlos möglich wäre.
Physikalische Grundlagen
Warum legen sich Menschen, die mit dem Motorrad unterwegs sind, überhaupt in die Kurve und durchfahren sie nicht einfach aufrecht? Das verlangen die Gesetze der Physik: Die Schräglage wird benötigt, um der Fliehkraft zu begegnen. Höhere Geschwindigkeit in der Kurve führt zu größerer Querbeschleunigung. Um diese auszugleichen, wird ein größerer Neigungswinkel zum Durchfahren der Kurve notwendig. Umgekehrt gilt, unter der Voraussetzung gleichbleibender Geschwindigkeit, dass bei großen Kurvenradien eine geringere Schräglage eingenommen werden muss als bei kleineren Radien. Das Prinzip ist dasselbe wie beim Radfahren.
Eine App misst die Lage
Weil das Zögern, sich situationsbedingt tief genug in die Kurve zu legen, zu gefährlichen Situationen führen kann, hat die BASt drei Institute beauftragt, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Mit drei unterschiedlichen Messtechnikkonzepten haben das Fachgebiet Fahrzeugtechnik der TU Darmstadt, das Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften GmbH und die Auto Mobil Forschung Dresden GmbH das Neigungsverhalten von Motorradfahrerinnen und -fahrern analysiert. Dazu wurden Probandenfahrten auf einem Messmotorrad im normalen Straßenverkehr untersucht, stationäre Messgeräte in Kurvenbereichen aufgestellt und eine Smartphone-App entwickelt, die die Schräglage der Fahrenden aufzeichnet.
Nur wenige neigen sich über 30 Grad
Dabei wurde beobachtet, dass mindestens die Hälfte der Rollwinkel unter 15 Grad und mindestens 75 Prozent der Rollwinkel unter 25 Grad liegen. Rollwinkel über 30 Grad konnten – obwohl unbedenklich – lediglich in 5 bis 10 Prozent der Stichprobe beobachtet werden. „Dabei können sich erfahrene Fahrerinnen und Fahrer unter entsprechenden Bedingungen auch bedenkenlos mit über 40 Grad in die Kurve legen“, sagt Florian Scherer von der TU Darmstadt, einer der Autoren der Studie. Bei Nässe oder Rollsplitt ist allerdings Vorsicht geboten. Beobachtet wurde auch, dass Motoradfahrerinnen und -fahrer, die eher weniger fahren (unter 5.000 km im Jahr), mit geringerer Schräglage durch die Kurven fahren. Die Schräglagenschwelle ist also nicht bei allen Fahrerinnen und Fahrern gleich und wird unter anderem von der persönlichen Fahrerfahrung beeinflusst.
Viele Unfälle durch Fehleinschätzungen
„Wenn Unerfahrene langsam genug unterwegs sind, brauchen sie keine besonders hohe Schräglage, um eine Kurve zu nehmen“, so Scherer. Zum Problem wird die Schräglagenangst jedoch, wenn die Fahrenden in eine unvorhergesehene Situation geraten, etwa durch ein Ausweichmanöver. Muss die Kurve im Anschluss an das Ausweichen enger gefahren werden als ursprünglich vorgesehen, kann die Schräglagenangst tödliche Folgen haben. Denn bei zu geringer Schräglage wird eine zu weite Kurve gefahren, die womöglich am Baum oder im Gegenverkehr endet.
Mehr als die Hälfte aller Motorradunfälle, im Jahr 2020 rund 54 Prozent, wird auf den Unfalltyp „Fahrunfall“ zurückgeführt: Kontrollverlust über das Fahrzeug durch nicht angepasste Geschwindigkeit oder Fehleinschätzung des Straßenverlaufs bzw. -zustands, ohne einen Beitrag durch andere Verkehrsteilnehmende.
Wo liegt meine persönliche Schwelle?
Christoph Albus vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) ist Verkehrssicherheitsexperte und passionierter Motorradfahrer. „Viele Unfallanalysen zeigen, dass man im Schreckmoment Fahrfehler machen kann und zum Beispiel in Schräglage die Bremse zieht, statt auszuweichen“, sagt er. Selbst bei erfahrenen Fahrerinnen und Fahrern kann die Souveränität im Umgang mit kritischen Fahrsituationen nachlassen, insbesondere nach längeren Fahrpausen. Daher könne ein gezieltes Fahrtraining unter qualifizierter Anleitung sinnvoll sein, bei dem man ein Gefühl dafür bekomme, wo die eigene Schräglagenschwelle liege, sagt Albus. „Im Alltag sollte man nur so schnell fahren, dass man immer noch eine ausreichende Reserve in Bezug auf die Schräglage hat. So kann man auch in unerwarteten Situationen richtig reagieren.“
Das Institut für Zweiradsicherheit – ifz – erklärt die richtige Technik um Kurven zu hinterschneiden.
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