Der Sommer ist in vollem Gange und damit für viele Autoreisende auch die Zeit der großen Staus. Wir haben den international bekannten Stauforscher Michael Schreckenberg gefragt, wie Staus aus dem Nichts entstehen können, welches Verhalten die Staubildung fördert und wie Autofahrende diese vermeiden können.
Warum entsteht ein Stau?
Staus aufgrund von Extremwetter oder einer Autobahnsperrung erklären sich von selbst – bei einem „Stau aus dem Nichts“ fehlt dagegen ein offensichtlicher Anlass. Vor 30 Jahren veröffentlichte Michael Schreckenberg gemeinsam mit einem Kollegen das „Nagel-Schreckenberg-Modell“, das erstmals die Entstehung eines Staus aus dem Nichts erklärte. „Runter vom Gas“ hat mit Professor Schreckenberg, heute Lehrstuhlinhaber für „Physik von Transport und Verkehr“ an der Universität Duisburg-Essen, über die Entstehung und Vermeidung von Staus gesprochen.
1,4 Millionen Kilometer Stau
Wir haben den Stauforscher gefragt, ob das Staumodell von vor 30 Jahren noch aktuell sei. „Es wird jedenfalls immer wieder herangezogen und ist die weltweit am häufigsten zitierte verkehrswissenschaftliche Arbeit“, sagt der Experte. Auch in Deutschland hat sich das Thema Stau nicht erledigt, im Gegenteil: Zwischen 2002 und 2019 stieg die Zahl der jährlichen Staukilometer von 320.000 auf 1,4 Millionen. Die Pandemie sorgte zwar für einen leichten Rückgang, dennoch summierte sich die Gesamtdauer der gemeldeten Staus in Deutschland im Corona-Jahr 2021 laut ADAC auf 346.500 Stunden. Umgerechnet wären das fast 40 Jahre Stau.
Eine Ursache für die Zunahme an Staus ist das Verkehrswachstum. Die Gesamtfahrleistung auf deutschen Straßen stieg laut Bundesumweltamt zwischen 2002 und 2019 von rund 690 auf 755 Milliarden Kilometer. „Ein weiterer Grund ist die wachsende Zahl an Baustellen“, sagt Schreckenberg. Dies sei zum Teil auf unzureichende Investitionen in die Infrastruktur und auf mangelhafte Planung zurückzuführen. „Ein Beispiel ist der geplante Abriss der Rahmede-Talbrücke bei Lüdenscheid, der eine ganze Region ins Verkehrschaos stürzt.“
Wie es zum Stau aus dem Nichts kommt
Wenn eine Autobahnbrücke gesperrt wird, ist Stau vorprogrammiert. Aber wie kommt es zum Stau aus dem Nichts? Voraussetzung ist immer ein gewisses Verkehrsaufkommen. Wenn auf der viel befahrenen Autobahn Einzelne abrupt bremsen, kann dies schon einen Stau auslösen – das hat das Nagel-Schreckenberg-Modell gezeigt. Hierfür kann es diverse Gründe geben. Wer zum Beispiel zu wenig Sicherheitsabstand einhält oder beim Fahren abgelenkt wird, muss öfter mal abrupt bremsen, um Unfälle zu vermeiden. Oder jemand wechselt unversehens oder unnötig den Fahrstreifen, stört damit den Verkehrsfluss und zwingt andere zum Bremsen.
Bei dichtem Verkehr verstärkt sich der Bremseffekt von Fahrzeug zu Fahrzeug, bis eines schließlich vollständig stehen bleibt und die nachfolgenden ebenfalls zum Anhalten zwingt. So wird aus dem fließenden Verkehr ein Stau, der sich schnell über mehrere Kilometer erstrecken kann. Die Staufront bildet sich hinter dem Fahrzeug, das den Stau verursacht hat und verläuft mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 km/h gegen die Fahrtrichtung. Die Welle setzt sich fort, bis die Verkehrsdichte niedriger wird.
So bleibt der Verkehr flüssig
Wie aber kann ich durch mein Fahrverhalten dazu beitragen, dass sich Staus erst gar nicht bilden? „Sie sollten möglichst so fahren, dass Sie abruptes Bremsen vermeiden können und auch andere nicht zum Bremsen zwingen“, rät Schreckenberg. Das bedeutet:
- aufmerksam bleiben! Die vermeintlich anspruchslose Situation in zähfließendem Verkehr führt dazu, dass viele Verkehrsteilnehmende mit ihren Gedanken abschweifen und dann situationsbedingt auf Gefahrensituationen durch heftiges Bremsen reagieren müssen.
- nicht zu dicht auffahren. Bei geringem Abstand zwingt mich das Bremsen des vorausfahrenden Fahrzeugs ebenfalls zum Bremsen. Als Faustregel gilt, dass der Sicherheitsabstand außerorts mind. 2 Sekunden betragen muss, also etwas mehr als der berühmte „halbe Tachoabstand“. Noch besser wären sogar drei Sekunden, um Störungen im Verkehrsfluss ausgleichen zu können.
- unnötige Spurwechsel vermeiden: Durch das sogenannte „Kolonnenspringen“ kommen Verkehrsteilnehmende nicht schneller vorwärts, sondern zwingen andere zum Abbremsen und erhöhen damit wiederum die Staugefahr.
- beim Auffahren auf die Autobahn den Einfädelungsstreifen ausnutzen, um die Geschwindigkeit so anzupassen, dass nachfolgende Fahrzeuge im fließenden Verkehr nicht bremsen müssen und beim Verlassen der Autobahn den Ausfädelungsstreifen zum Verlangsamen nutzen.
Richtig einfädeln mit dem Reißverschluss
Einen weiteren Hinweis gibt Dr. Ingo Koßmann, Leiter der Abteilung „Verhalten und Sicherheit im Verkehr“ bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt): „Ein leider häufiges Phänomen ist, dass ein Unfall auf einer Autobahnseite nach kurzer Zeit zu einem weiteren Stau in Gegenrichtung führt. Der Grund sind Gaffer.“ Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Neugier im Zaum gehalten und bei Unfällen auf der Gegenseite nicht abgebremst werden sollte, um zu schauen, was los ist.
Auch Baustellen, bei denen die Zahl der Fahrstreifen reduziert wird, sind oft Grund für Staus. Auch hier könnten Fahrerinnen und Fahrer durch ihr Verhalten etwas für den Verkehrsfluss tun, sagt Koßmann. Etwa beim sogenannten Reißverschlussverfahren, also dem abwechselnden Einfädeln von zwei Fahrstreifen auf einen: „Der Reißverschluss sollte erst direkt vor der Spurverengung beginnen. Frühzeitiger Spurwechsel führt nur zu unnötigen Bremsvorgängen.“
Wie vermeide ich es, in den Stau zu fahren?
Angesichts drohender Ferienstaus haben wir Professor Schreckenberg noch eine dringende Frage gestellt: Wie kann es vermieden werden, überhaupt in einen Stau zu geraten? Können Navi-Apps dabei helfen?
„Nicht wirklich“, sagt der Experte. „Durch Navi-Apps sind unsere Staus zwar kürzer geworden, aber dafür gibt es mehr Staus. Denn die Fahrzeuge verlassen die Autobahn, um einen Stau zu vermeiden, und an der nächsten Kreuzung der Landstraße entsteht ein neuer Stau.“ Erst wenn in Zukunft ein Großteil der Fahrzeugflotte automatisiert fahre und durch koordinierte Fahrleitsysteme gesteuert werde, könne die Entstehung von Staus verhindert werden.
Und was macht der Stauexperte selbst, um nicht in den Stau zu fahren? „Eine Strategie ist es, genau dann zu fahren, wenn besonders eindringlich davor gewarnt wird“, sagt Michael Schreckenberg. „Denn aufgrund der Warnung ändern viele Leute ihre Pläne und der Stauzeitraum verschiebt sich.“ Eine Garantie darauf, dass die Strategie immer aufgeht, möchte der Verkehrswissenschaftler aber nicht geben.
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