Ein sonniger Donnerstagvormittag am Karlsruher Hauptbahnhof: Fast hätte ich das dezente weiße Portal übersehen. Denn der Vorplatz auf der Südseite des Bahnhofs wird momentan umgebaut. In der Mitte des Platzes klafft eine riesige Baugrube, Stapel aus Betonplatten behindern die Sicht. Durch zwei Baukräne hindurch ist schließlich ein farbenfrohes Logo zu erkennen. Und so schlängele ich mich an einer gepäckbeladenen Reisegruppe vorbei in Richtung eines überdachten Eingangs. „Karlsruher Fahrradstation Hauptbahnhof Süd“ steht da über einem stählernen Drehkreuz, flankiert von bunten, kreisrunden Zeichen. Hier bin ich mit Saskia Nurie verabredet. Nurie ist Architektin und hat bei der Stadt Karlsruhe den Bau der Radstation von Beginn an begleitet. Sie wird mich heute durch die Anlage führen und mir das Konzept „Fahrradstation“ näherbringen.
Fahrradstationen gibt es in Deutschland seit den Neunzigern – in den letzten Jahren ist deren Anzahl aber kontinuierlich gestiegen. Aktuell gibt es laut dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club e.V. (ADFC) bundesweit 78 solcher Stationen, dazu kommt eine unbekannte Zahl an Fahrradparkhäusern. Damit reagieren die Kommunen auf den steigenden Radverkehr in Deutschland beziehungsweise auf seine eher lästige Begleiterscheinung. Denn immer häufiger stehen Radler in Städten vor demselben Problem: Sie finden keinen Stellplatz für ihr Zweirad. Haltebügel vor öffentlichen Gebäuden oder Unternehmen sind in der Regel vollständig besetzt. Oft kommt es deswegen zum „Wildparken“: Fahrräder werden an Verkehrsschilder, Bäume oder Bauzäune gekettet. Dort könnten sie jedoch andere Verkehrsteilnehmer behindern, die Sicht verdecken und eine Gefahr darstellen.
Hier möchten Fahrradstationen Abhilfe leisten. Wie in Pkw-Garagen auch, sollen Radler in überdachten und meist überwachten Anlagen einen schnellen und sicheren Parkplatz für ihr Zweirad bekommen. Im Vergleich zu reinen Fahrradparkhäusern bieten Radstationen darüber hinaus noch weitere Leistungen an, wie zum Beispiel einen Reparaturservice oder einen Fahrradverleih. Deswegen bin ich heute hier. Als passionierter Radfahrer möchte ich wissen: Bin ich beruhigter, wenn das eigene Fahrrad nicht auf der Straße, sondern im Parkhaus steht, und von welchen Serviceangeboten kann ich profitieren?
Ein Zeichen mit Symbolkraft: der Umbau einer Autotiefgarage zur Fahrradstation
Auch in Karlsruhe sei es die wachsende Zahl an Fahrradpendlern gewesen, die die Stadt zum Nachdenken brachte, erzählt Nurie später, während sie über einen Schalter unter dem Vordach für uns beide ein Tagesticket für jeweils einen Euro kauft. Bereits 2005 hat die Kommune einen 20-Punkte-Plan beschlossen, um das Radfahren in Karlsruhe umfassend zu fördern. Da die überdachten Stellflächen an der Nordseite des Bahnhofs schnell nicht mehr ausreichten, entschied die Stadt 2017, eine der Autogaragen am Hauptbahnhof in ein weiteres Fahrradparkhaus umzubauen.
Heute erinnert so gut wie nichts mehr an ein klassisches Kfz-Parkhaus – und das liegt nicht nur am fehlenden Abgasgeruch. Nachdem ich mein Rad durch das Tor neben dem Drehkreuz bugsiert habe, stehe ich auf einer strahlend weiß gestrichenen 1.200 Quadratmeter großen Fläche, das entspricht in etwa zwei Tennisplätzen. Und wie auf einem Tennisplatz finden sich auch hier auf dem Boden Markierungen. Um die Orientierung zu erleichtern und das eigene Rad schneller wiederfinden zu können, wurde der Raum in fünf unterschiedliche Farbzonen eingeteilt. Die fünf Töne tauchen an Boden und Wand als große Kreise auf, aber auch die Fahrradständer und sogar die Deckenlampen sind entsprechend eingefärbt.
An den Wänden können die Räder in zwei Ebenen übereinander verstaut werden, in der Mitte finden sich jedoch nur ebenerdig aufgestellte Fahrradständer: „Uns war es wichtig, dass die Nutzer stets die ganze Fläche überblicken können. Das steigert das Sicherheitsgefühl“, erklärt mir Nurie. Insgesamt bietet die Station Platz für 680 Fahrräder. Für Lasten- und Liegeräder oder Räder mit Kinderanhänger gibt es 16 Sonderstellplätze mit extralangen Bügeln. Im Moment seien noch viele Lücken frei, die Auslastung liege aktuell bei circa 35 Prozent, sagt Nurie – sie ist aber zuversichtlich, dass die Belegung weiter steigt. Aus anderen Projekten weiß sie: Es dauert, bis sich ein neues Verkehrskonzept etabliert. Zudem seien die Zahlen aufgrund der Corona-Pandemie leicht zurückgegangen, da sich viele Berufspendler immer noch im Homeoffice befinden, „ein massiver Einbruch blieb uns aber zum Glück erspart“.
Duftspender für ein besseres Sicherheitsgefühl
Apropos Berufspendler: Nurie führt mich zielstrebig durch eine Glastür in einen Nebenraum. Ich fühle mich spontan an eine Umkleidekabine eines modernen Fitnessstudios erinnert: Eine limettengrüne, puristische Sitzbank steht auf türkisblauem Boden – an der Wand befinden sich mehrere Schließfächer, in einer Ecke steht ein Waschbecken. „Hier können sich die Fahrradfahrer umziehen und erfrischen, bevor sie weiter in den Zug steigen“, erläutert Nurie, das Wasser aus dem Hahn hat deswegen Trinkwasserqualität. Außerdem sind die Schließfächer mit Steckdosen ausgestattet. E-Akkus können hier also nicht nur sicher verstaut, sondern auch aufgeladen werden. Die meisten Spinde sind langzeitvermietet – die Reservierung erfolgt bequem über das Smartphone.
Gemeinsam rollen wir mein Rad auf die Hauptebene zurück. Neben dem modernen Ambiente und den nützlichen Zusatzfunktionen fällt mir vor allem der süßlich-fruchtige Duft auf, der aus Duftspendern an den Wänden kontinuierlich die ganze Station erfüllt. Auch das sei wieder ein subtiler Beitrag für ein größeres Sicherheitsgefühl, so Nurie. Neben diesen „weichen“ Faktoren wie einer freien Sicht und einem angenehmen Duft gibt es in der Station aber auch ganz objektive Sicherheitskriterien. So ist die rund um die Uhr geöffnete Anlage permanent kameraüberwacht, über Ruftasten kann eine direkte Verbindung zum Parkwächter aufgebaut werden, und der Zugang zum Objekt ist nur mit Ticket möglich. „Radfahren muss sicher sein, nur dann ist es attraktiv“, erklärt Nurie. Dazu zähle neben sicheren Radwegen und einer guten Ausstattung auch ein diebstahlsicherer Stellplatz, vor allem weil viele Fahrer zu immer hochwertigeren Rädern greifen. Darüber hinaus schone die Fahrradstation auch die Nerven: „Wenn man weiß, dass man einen sicheren Parkplatz bekommt, lässt sich der Morgen etwas entspannter angehen.“
Das mutige Farbkonzept, die Ladestationen in den Schließfächern, die Sache mit den Duftstoffen – wie kommt man auf so ein Konzept? Das sei in der Tat „etwas Besonderes“, bestätigt Nurie und weist bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass die Station zudem komplett über Ökostrom betrieben wird. Man habe sich zwar von bestehenden Radstationen inspirieren lassen, letztendlich aber war es ein „Pilotprojekt“, denn konkrete Vorgaben wie etwa im Wohnungs- oder Verwaltungsbau gibt es für die Konstruktion von Fahrradstationen noch nicht. Das beauftragte junge Karlsruher Architekturbüro konnte bei der Planung deswegen „mit viel Elan und Mut“ vorgehen.
Der erste Platz beim Deutschen Fahrradpreis 2020
Und wer wagt, gewinnt. Im wortwörtlichen Sinne: Nach viel positiver Resonanz wurden Nurie und ihre Kollegen von ihren Ansprechpartnern im Karlsruher Stadtplanungsamt gefragt, ob sie nicht Lust hätten, das Projekt für den Deutschen Fahrradpreis in der Kategorie Infrastruktur einzureichen. „Da haben wir nicht lange gezögert“, erzählt sie – und prompt den ersten Platz belegt. An die feierliche und persönliche Verleihung kurz vor dem Corona-Lockdown in Essen denkt sie besonders gerne zurück. „Es waren viele gute Projekte im Rennen. Dass die Wahl auf uns fiel, ist eine große Ehre.“ Seitdem gibt es immer wieder Anfragen aus anderen Kommunen, die von den Erfahrungen aus Karlsruhe profitieren wollen.
Bevor ich mich auf den Weg mache, zeigt mir Nurie noch eine kleine Reparaturstation. An einer Servicesäule pumpe ich frische Luft in meine Reifen; man kann hier aber auch Schrauben nachziehen oder den Schlauch aus dem Mantel lösen, wenn man zum Beispiel versehentlich in einen Nagel gefahren ist. So fahre ich an den Markierungen entlang in Richtung Ausgang. Als ich schließlich aus dem Parkhaus rolle, sitze ich irgendwie selbstbewusster im Sattel. So eine Fahrradstation hat durchaus Vorteile: Da ist einerseits das erleichternde Gefühl, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, ob das hart ersparte Rennrad eventuell geklaut wurde. Dazu kommt die Annehmlichkeit, morgens nicht verschwitzt das Büro zu erreichen. Es ist aber auch noch etwas anderes: Mir gefällt, dass mein Rad in der Fahrradstation die Wertschätzung erfährt, die es als Verkehrsmittel auch verdient. Ich werde von nun an häufiger kommen.
Bilder: Julius Schrank