Das Fahrzeug beschleunigt, die Drehzahl erhöht sich, die Umgebung fliegt schneller vorbei. Dann der Schockmoment: Ein entgegenkommendes Auto taucht auf der eigenen Fahrbahn auf. Der Herzschlag von Björn P. wird stärker. Er beginnt zu schwitzen – und verkrampft. Dann bricht er die Simulation ab. Es ist der erste Versuch einer direkten Konfrontation mit seinem früheren Unfallerlebnis. Es zeigt, wie verunsichert Björn P. dadurch war. Eine Begegnung mit einem Mann, der nach einem verheerenden Verkehrsunfall unter Fahrangst litt und sie mittlerweile dank professioneller Unterstützung überwunden hat.
Es ist der 12. März 2012, 8 Uhr. An diesem Montagmorgen ist der Himmel über dem Schwarzwald blau. Die Sonne scheint, Björn P. fährt mit dem Auto zu seinem ersten Kundentermin in Rheinfelden in der Nähe von Basel. Dort wird der Außendienstmitarbeiter jedoch nicht ankommen. Auf der B27 bei Donaueschingen kommt es zu einem Unfall, der sein Leben nachhaltig verändern wird.
Auf der zweispurigen Bundesstraße fährt der damals 39-Jährige mit 80 Kilometern pro Stunde in einer Kolonne hinter einem Lkw. Er schaut für einen kurzen Augenblick durch das Beifahrerfenster auf einen Feldweg, auf dem sich ein haltender Pkw befindet. In dem Moment, als er wieder auf die Straße blickt, gerät ein entgegenkommendes Fahrzeug auf seine Fahrspur.
„Mein erster Gedanke war: Ich lebe noch.“
Björn P. kann nicht mehr reagieren. Das entgegenkommende Fahrzeug prallt mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h in sein Auto. Die Frontscheibe zerplatzt. Glassplitter fliegen durch das Auto, alle Airbags gehen auf. Beide Autos drehen sich. Als die Pkw entgegen der Fahrtrichtung zum Stehen kommen, ist die Fahrertür vom Auto des Außendienstmitarbeiters herausgerissen. In seiner Sonnenbrille stecken Glassplitter. Der Verunglückte steigt selbstständig aus dem Wagen. „Mein erster Gedanke: Ich lebe noch.“ Der Vater von vier Kindern erfährt später von der Polizei, dass der Unfallverursacher während der Fahrt eine Nachricht auf seinem Handy tippte. Björn P. selbst hat keinen Fehler begangen. Er sei nur „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen, wie er sagt.
Ein halbes Jahr Morphium
Die körperlichen Folgen werfen ihn aus der Bahn: Beide Hände sind gebrochen. Er hat Schnittverletzungen am Arm und eine Gehirnerschütterung. Seine Schulter ist lädiert. Seine Hüfte ist blau. Lebensbedrohliche Verletzungen hat er nicht. Allerdings plagen ihn nach dem Unfall starke Kopfschmerzen und ein Schmerzsyndrom in der rechten Hand. Er bekommt starke Schmerzmittel. Sechseinhalb Monate nimmt er Morphium. Die Medikamente machen ihn gefühlskalt. Er hat keinen Elan, keinen Kopf für seine Kinder und seine Frau Barbara. „Ich war ziemlich unausstehlich“, sagt er heute.
Er entscheidet sich Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mit Hilfe der Psychotherapeutin Cornelia Späth und seinem Glauben hofft Björn P., den Unfall verarbeiten zu können. In den Monaten nach dem Unfall geht es dem Familienvater nach und nach besser. Ein Jahr nach dem tragischen Ereignis wagt er sich erstmals wieder ans Steuer. Mit seiner Frau Barbara auf dem Beifahrersitz legt er die erste Fahrt zurück – eine Strecke von 300 Metern bis zum Metzger. Der Weg führt über eine Kreuzung. „Ich habe in Schweiß gebadet. Als ich ankam, war ich fix und fertig.“ Die kurze Strecke ist eine Offenbarung. Zu diesem Zeitpunkt ist klar: Björn P. hat den Unfall noch nicht verarbeitet. Neben körperlichen Verletzungen hat er auch seelische davongetragen.
Um seine Unsicherheit zu überwinden, nimmt der Familienvater Fahrstunden. Mit einem Fahrlehrer ist er schließlich zum ersten Mal nach dem Unfall wieder auf einer Autobahn unterwegs. Zwei Jahre lang gelingt es ihm, den Unfall halbwegs zu verdrängen. Doch häufig träumt er davon, dass Angehörige bei einem Unfall sterben – vor allem seine Kinder. Hinzu kommen die Panikattacken. Er fürchtet, die Kontrolle zu verlieren, wenn ihm ein Fahrzeug entgegenkommt. Er macht sich Gedanken, nicht ausweichen, lenken oder bremsen zu können. Zudem holen ihn die Erinnerungen an den Unfall auch in alltäglichen Situationen wieder ein: Harmlose Geräusche wie das Zerbrechen eines Wasserglases rufen Panik hervor.
Björn P. merkt, dass sich etwas ändern muss. Er konsultiert erneut seine Psychotherapeutin Cornelia Späth. Der Familienvater durchlebt den Unfall immer wieder. Es häufen sich Situationen, in denen er Angst vor dem Kontrollverlust hat, die Sorgen beim Autofahren werden immer größer.
Schicksale wie diese sind Professor Dr. Paul Pauli bestens bekannt. Der Wissenschaftler erforscht an der Universität Würzburg unter anderem Angststörungen. „Die Angst ist ein Signal. Sie warnt einen und zeigt: ‚Pass auf’“, so Pauli. „Die Angst kann aber problematisch werden, wenn sie sich immer weiter ausbreitet und zu stark wird, sodass der Betroffene in seinem Verhalten sehr eingeschränkt wird.“
Nach einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) muss etwa jeder vierte Schwerverletzte mit psychischen Folgeerkrankungen nach einem Verkehrsunfall rechnen. Für eine erfolgreiche Therapie der Ängste sei es entscheidend, die eigenen Gedanken und das eigene Verhalten zu hinterfragen: „Die Patienten müssen lernen, dass die Situationen, in denen sie Angst empfinden, nicht gefährlich sind “, sagt Pauli.
Aufgeben kam nie in Frage
Beim Therapieren von Fahrangst kann es sinnvoll sein, einen Fahrsimulator einzusetzen. Dadurch können belastende Verkehrssituationen simuliert werden: etwa das Entgegenkommen eines Fahrzeugs. Mit dem Fahrsimulator können solche kritischen, aber auch sehr spezifischen Situationen, wie beispielsweise die Begegnung mit Einsatzfahrzeugen, gezielt geübt werden – ohne eine reale Gefährdung. Zudem kann die Simulation im Falle einer Überlastung des Betroffenen jederzeit unterbrochen werden.
Ein solches System gibt es in Dresden am Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG). Laut Dr. Jürgen Wiegand, Leiter des Bereichs Verkehrssicherheit, haben seit 2012 etliche Patienten vom Fahrsimulator am IAG profitiert: „Manche Patienten bedürfen zunächst einer sehr niedrigen Belastung - vor allem dann sind gute Ergebnisse mit der Verkehrssimulation zu erwarten“, sagt der Experte. „Zudem können in der Simulation je nach Patient Schlüsselreize wie etwa das Aufflackern von Blaulicht oder das Ertönen eines Martinshornes gezielt eingesetzt werden.“
„Immer wieder habe ich die Szene durchgespielt.“
Björn P. war zwei Tage mit seiner Therapeutin vor Ort und hat den Verkehrssimulator in Dresden genutzt. Er absolvierte ein speziell für ihn konzipiertes Training. „Immer wieder habe ich die Szene durchgespielt: dass ein Auto mir entgegenkommt.“ Je nach Programmierung haben die Experten das entgegenkommende Fahrzeug mal mehr und mal weniger auf seine Fahrspur navigiert. Mehrmals musste Björn P. die Simulation abbrechen. Unerträglich waren die Unfallbilder, die immer wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten. Tage später litt er noch an Muskelkater, weil er am Steuer des Simulators vollkommen verkrampfte.
Doch aufgeben war keine Alternative. „Wenn ich da bin, ziehe ich das durch.“ Je öfter er die Simulation durchspielte, desto geringer war die Anspannung. Irgendwann merkte er: Er war handlungsfähig und konnte auch in dieser kritischen Situation bremsen, ausweichen und – so gut es ging – die Kontrolle behalten. Das Vertrauen in sich selbst kam zurück. Und Björn P. machte eine völlig neue Erfahrung: Er verkrampfte nicht mehr und blieb konzentriert, aber entspannt. „Er war ein sehr engagierter Klient“, sagt Cornelia Späth.
Der mittlerweile 45-Jährige bleibt jetzt gelassen am Steuer. Auch in Situationen, die ihn an den Unfall erinnern. Der Ort der Kollision spielt immer noch eine Rolle in seinem Alltag. Ein Mal im Monat fährt er aus beruflichen Gründen daran vorbei. In diesen Momenten blendet er die Unfallbilder so gut es geht aus. Am Unfallort wurde die zertrümmerte Leitplanke längst durch eine neue ersetzt. Er nennt sie seine „Gedächtnis-Leitplanke“.
Der Unfallverursacher, der das Leben des Familienvaters am 12. März 2012 schlagartig veränderte und die Kollision ebenfalls überlebte, hat sich nie bei ihm gemeldet und entschuldigt. „Das war schlimm und hat mich lange beschäftigt“, sagt er. Doch er hegt keinen Groll gegen den Verursacher. Bei ihm überwiegt heute die Dankbarkeit. Er ist gesund, kann seinen Job ausüben und erfreut sich an seiner Familie.
Die gesetzliche Unfallversicherung
Glück im Unglück. Wer auf dem Weg von und zur Arbeit oder auf Dienstwegen als Arbeitnehmer einen Unfall erleidet, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, einem Zweig der Sozialversicherung. Heidemarie Schröer, Leiterin der Bezirksverwaltung Ludwigsburg der VBG (Verwaltungs-Berufsgenossenschaft): „Wir kümmern uns nicht nur um die medizinische Rehabilitation. Unsere Reha-Managerinnen und Reha-Manager haben den Anspruch, die Versicherten zurück in den Beruf und zurück ins soziale Leben zu bringen.“ Übrigens: Selbständige sind in der Regel nicht durch die gesetzliche Unfallversicherung abgedeckt. Sie müssten eine private Versicherung abschließen, um sich ebenfalls zu schützen. Beamte können sich an ihren Dienstherrn wenden. Weitere Informationen z.B.: www.vbg.de.
Weiterführende Links
Psychische Folgen von Verkehrsunfällen: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 245.