Herr Dr. Wagner, selbst freundliche und gutmütige Personen erkennt man oft nicht mehr wieder, sobald sie sich ins Auto setzen: Sie fluchen, drängeln und hupen. Macht uns das Auto aggressiv?
Das kann ich so nicht bestätigen. Schon 1949 haben die amerikanischen Forscher Tillmann und Hobbs den wunderbaren Satz geprägt: „Truly it may be said that a man drives as he lives“ – man verhält sich also im Straßenverkehr genauso wie in sonstigen Lebenslagen auch. Das gilt bis heute. Wer außerhalb des Straßenverkehrs ein Rüpel ist und keine Antennen für die Bedürfnisse anderer hat, bei dem wird es im Straßenverkehr nicht anders sein.
Viele beobachten dennoch einen Trend, dass die Aggression auf den Straßen immer mehr zunimmt. Würden Sie dem zustimmen?
Nein, das sehe ich ebenfalls nicht so. Wenn dem so wäre, müssten wir das auch am Lagebild des Straßenverkehrs erkennen können. Die Anzahl der Autofahrer, deren Führerschein entzogen wird, ist beispielsweise seit Jahren nicht mehr merklich angestiegen, sondern befindet sich auf einem stabilen Niveau – bei insgesamt 50 Millionen Führerscheininhabern ist das eine Gruppe von 4.000 bis 5.000 Fahrern und Fahrerinnen. Auch die Zahlen der Verkehrstoten sind seit Jahren weitgehend konstant. Zudem liegt Deutschland im europaweiten Vergleich nach Schweden, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden bei den wenigsten Getöteten pro eine Million Einwohner auf Platz 4 – als Transitland mit einer hohen Verkehrsdichte stehen wir also gut da.
Es kommt uns also nur so vor, dass Autofahren aggressiv macht: Woher kommt diese Wahrnehmung?
Da muss man ausholen, denn wir sprechen über soziale Wahrnehmung – nämlich die subjektive Verarbeitung einer Beobachtung: Unser Gehirn ordnet und filtert jeden Tag eine riesige Menge an Informationen. Damit das reibungslos funktioniert, muss das Gehirn sie vereinfachen, zusammenfassen oder Details ausklammern. Das führt zu Wahrnehmungsverzerrungen. Darüber muss man sich im Klaren sein, bevor man über andere Verkehrsteilnehmer urteilt. Wir sind zum Beispiel geneigt, Situationen, die wir am Anfang oder am Ende einer Reihe von Ereignissen erleben, stärker zu gewichten als Dinge, die mittendrin passieren. Wenn auf einer langen Fahrt gleich an der ersten Ampel ein unschönes Ereignis passiert, hat das einen stärkeren Effekt darauf, wie ich die gesamte Fahrt bewerte, als wenn mir jemand mitten drin die Vorfahrt nimmt. Das gleiche gilt auch für das Ende einer Ereignisabfolge. Das ist der sogenannte Primacy/Recency-Effekt. Ein anderes Beispiel ist der Fundamentale Attributionsfehler. Das bedeutet, dass wir dazu neigen, ein negatives Erlebnis als persönliches Merkmal einer Person wahrzunehmen und situative Einflüsse eher auszuklammern. Konkret: Wenn jemand zu langsam fährt, dann beziehen wir kaum mit ein, dass die Person sich nicht auskennen könnte oder einen schlechten Tag hat. Stattdessen halten wir das Verhalten für Absicht oder schieben es auf mangelnde Leistungsfähigkeit.
Inwiefern fördern bestimmte Situationen im Straßenverkehr Stress und Aggressionen?
Stress kann durch eine hohe Verkehrsdichte begünstigt werden. Wir kennen aus der Sozialpsychologie den sogenannten Crowding-Effekt – eine Form der Überforderung durch räumliche Beengtheit, die zu Unbehagen und Unmut führt. Denn wir wollen um uns herum immer einen gewissen Freiraum haben, der nicht eingeschränkt werden soll. Man kennt das aus voll besetzten Aufzügen: Da fühlen sich fast alle unwohl. Zudem ist Ärger ein starker Faktor, der zu Aggression führen kann: Wer nervös und überlastet ist, weil er viele Sachen zu erledigen hat, und sich in diesem Zustand ins Auto setzt, der ist deutlich anfälliger für Ärger und reagiert deswegen mitunter schneller aggressiv. Denn dann bringt bereits die erste Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen.
Das bedeutet, wir Menschen sind in bestimmten Situationen im Straßenverkehr alle gleichermaßen anfällig für Aggressionen?
Das kann man so nicht sagen. Es gibt Effekte, die es begünstigen, dass einige Menschen für Fehlverhalten anfälliger sind als andere. Oft schätzen beispielsweise Autofahrer, die aufgrund von Geschwindigkeitsüberschreitungen Punkte im Fahreignungsregister in Flensburg bekommen haben, ihre Kompetenz als Kfz-Führer nicht realistisch ein. Sie überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten exorbitant und unterschätzen gleichzeitig die Fähigkeiten anderer – der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt. Je stärker dieser Überschätzungsgrad ausgeprägt ist, desto eher benehmen sich diese Fahrer im Verkehr nicht regelkonform. Aber wir sprechen dabei von einer absoluten Randerscheinung. Die allermeisten Personen schaffen es, aus dem ersten Punkteeintrag die richtigen Lehren zu ziehen und verhindern eine Eskalationsspirale. Weniger als ein Prozent aller Autofahrer, die einen solchen Eintrag haben, sind im Bereich des Führerscheinentzugs unterwegs. Auf alle Führerscheininhaber gerechnet sind es nur 0,01 Prozent – also einer von 10.000 Fahrern, die so stark auffallen, dass ihnen ein Führerscheinentzug droht. Und diese Zahl ist seit Jahren weitgehend konstant.
Sie sagen also: Um den Verkehr in Deutschland ist es gut bestellt?
Absolut. Der Verkehr ist ein Spiegelbild des sozialen Zusammenlebens. Die wichtigste Stellgröße dabei ist partnerschaftliches Verhalten. Paragraf 1 der Straßenverkehrs-Ordnung fordert deswegen von uns, Vorsicht und ständige Rücksicht walten zu lassen, damit niemand anderes gefährdet, beeinträchtigt oder verletzt wird. Das Zauberwort ist: Empathie. Der überwiegende Teil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens funktioniert. Insofern ist das Empathieproblem eher das Problem einer kleinen Gruppe – und da sagt unser Rechtssystem: Die müssen wir sanktionieren. Mit bestimmten Risiken müssen wir also rechnen, sobald wir in den Straßenverkehr eintreten. Durch die Kombination aus Ausbildung, Prüfung, langjähriger Fahrpraxis und einem sicheren Verkehrssystem wird der Rahmen dabei aber so gesteckt, dass es allen möglich sein sollte, sich an die Regeln zu halten – ein nahezu perfektes System, das leider immer wieder auf imperfekte Menschen trifft.
Shell-Studie bestätigt: Gutgelaunte fahren besser
In einer internationalen Studie hat das College Goldsmiths (University of London) im Auftrag von Shell ermittelt, dass Autofahrer ihre Fahrt mehr genießen und ein positives Fahrerlebnis haben, wenn sie glücklich und entspannt sind, weil sie dann für Ablenkung und Stress weniger anfällig sind. Ihrer eigenen Wahrnehmung zufolge sind sie deswegen auch sicherer unterwegs. Die „Shell Drives You“-Studie von 2018 zeigte, dass Autofahrer, die schlecht geschlafen hatten, zu wenig Wasser tranken oder unter Zeitdruck standen, abgelenkter und weniger effizient unterwegs gewesen seien. Negative Gemütszustände wie Wut, Angst oder Trauer führten darüber hinaus zu mehr Stress beim Autofahren. Die Studie hatte biometrische Daten von 267 deutschen Teilnehmern während des Fahrens erfasst und die Fahrer anschließend zu ihrem Fahrverhalten befragt – und diese Daten mit Teilnehmern aus vier weiteren Ländern verglichen.
Die allermeisten Personen schaffen es, aus dem ersten Eintrag im Fahreignungsregister in Flensburg die richtigen Lehren zu ziehen und verhindern eine Eskalationsspirale.
Wie erklären Sie sich ein Sprichwort wie „My car is my castle“, frei übersetzt: Mein Auto ist mein Königreich. Deutet das nicht darauf hin, dass partnerschaftliches Verhalten oft hintenangestellt wird?
Das ist ein ganz anderes Phänomen. Das Auto bietet eine abgeschlossene, private Intimsphäre, die es aufgrund der räumlichen Begrenzung ermöglicht, gewisse Freiheiten auszuleben. Das ist aber eine andere Form der Ich-Bezogenheit, die eher etwas mit Selbstdarstellung zu tun hat – weniger etwas damit, ob sich jemand verkehrswidrig verhält. Es gibt Oldtimer-Fans, stolze Cabrio-Besitzer oder Fahrer, die ausschließlich eine bestimmte Automarke bevorzugen. Die sind aber deswegen noch lange keine Rowdys. Eher im Gegenteil: Denn sie wollen ihr Hab und Gut ja schützen und erfreuen sich am Fahrerlebnis. Natürlich gibt es auch die Poser, die mit teurem Luxusauto laut röhrend durch die Städte fahren. Aber auch hier gilt: Es ist nur ein kleiner Teil derjenigen, die sich gern selbst darstellen und sich dabei rechtswidrig verhalten. Aber leider wird das Fahrzeug mitunter als Machtinstrument missbraucht.
Wenn ich also zu Musik mitsinge im Auto oder, ohne dass es jemand hört, doch mal kurz fluche, bin ich deswegen nicht unbedingt ein unempathischer Fahrer?
Genau, der Freiraum hat auch etwas Gutes. Es ist generell nichts Verkehrtes, Dinge im geschützten Raum zu tun, die einen davon wegbringen, Ärger zu empfinden – denn das verhindert, dass sich eine Aggression aufbaut und man darüber hinaus die Fahraufgabe aus dem Blick verlieren könnte. Da hilft es auch mal, einen Schrei im geschlossenen Auto loszulassen oder in einer Pause seine Lieblingsmusik anzuschalten, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
Was raten Sie jemandem, der merkt, er wird häufig unruhig und gestresst beim Fahren?
Dreh- und Angelpunkt ist die Planung der Fahrt. Man muss im Vorfeld mehr Zeit investieren, um das Zeitbudget abzustecken, das für die Fahrt zur Verfügung steht. Wichtig ist es, Pausen einzukalkulieren. Es ist wichtig, sich nicht wie in einem Hamsterrad dauernd zu überfordern. Gegen Belastung und Stress kann man natürlich auch Entspannungstechniken setzen. Es gibt Seminare zum Punkteabbau, die man auch ohne Punkte besuchen kann. Falls aber jemand schon ein bis fünf Punkte hat, kann er einen davon für die freiwillige Teilnahme streichen lassen. Im Seminar erfährt man viel über seine Stärken und Schwächen und welches Optimierungspotenzial den Fahrstil verbessern könnte. Gleichzeitig gibt es viele nützliche Hintergründe über Sinn und Zweck unseres Verkehrssystems.
Was ein Fahreignungsseminar bringt
Wer sechs Punkte in Flensburg gesammelt hat, bekommt eine Verwarnung. Denn ab dem achten Punkt wird die Fahrerlaubnis entzogen. Wer keinen oder bis zu fünf Punkte hat, kann freiwillig an einem Fahreignungsseminar (FES) teilnehmen. Das Seminar besteht aus vier zeitlich voneinander unabhängigen Modulen, wovon zwei verkehrspädagogisch ausgerichtet sind – sich also mit der Vermittlung von Kenntnissen zu Regelkunde und Unfallrisiken befassen. Zwei weitere Module sind verkehrspsychologisch ausgerichtet. Dabei wird gemeinsam mit einem Verkehrspsychologen an individuellen Strategien für die sichere Teilnahme am Straßenverkehr gearbeitet. Wer bis zu fünf Punkte im Fahreignungsregister hat, kann beantragen, einen Punkt durch die Teilnahme am Seminar abzubauen. Das ist allerdings nur einmal innerhalb von fünf Jahren möglich. Angeboten werden die Fahreignungsseminare von lokalen Fahrschulen und Prüfgesellschaften wie dem TÜV oder der Dekra, die jeweils über amtlich anerkannte Seminarleiter verfügen müssen.
Haben Sie ein, zwei Tipps für Entspannungstechniken zwischendurch?
Das Wichtigste ist: Pausen machen, Parkplatz ansteuern, tief Luft holen und eine Runde laufen. Das Pausenverhalten ist insgesamt noch optimierungswürdig. Wenn man Rastplätze ansteuert und schaut, wie voll die Autobahnen eigentlich sind, dann sind da vergleichsweise wenig Leute. Gut ist es auch, bei einer Pause einen Power-Nap im Fahrzeug zu machen: kurz hinlegen, zehn bis 20 Minuten schlafen. Dann können Sie sich neu auf die Fahraufgabe konzentrieren.
Malen wir uns einmal die Zukunft aus, Stichwort: autonomes Fahren. Wenn alle Autos über Sensoren ausreichend Abstand zueinander halten und in einem gleichmäßigen Tempo fahren: Wird es dann überhaupt noch Anlässe für Aggressionen im Straßenverkehr geben?
Das wäre dann wie Bahnfahren im eigenen Waggon, der Verkehr flösse gleichmäßiger und geordneter, aber der Mensch und seine Aggressionen ändern sich nicht durch Technik. Das Problem wird eher verlagert. Wenn wir annehmen, wir haben nur noch autonome Fahrzeuge, die zu 100 Prozent miteinander kommunizieren, gibt es immer noch dichten Verkehr in bestimmten Rush-Hours. Dann wird es Dispatcher geben müssen, die diese Verkehrsströme lenken – im Prinzip wie Fluglotsen für den autonomen Kraftverkehr. Dann werden auf dieser Ebene die Konflikte ausgetragen. Dass es in Zukunft keine aggressiven Akte mehr gibt, daran glaube ich nicht.
Ihr Berufsstand ist also gesichert?
Es wird vielleicht andere Schwerpunkte geben. Vielleicht untersuchen wir in 50 Jahren die Dispatcher, die sich in ihren Büros in die Haare kriegen, weil sie sich nicht einigen können, wer ins Stadtzentrum fahren darf und wer nicht.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Wagner.
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