Die meisten Menschen halten sich am Steuer für überdurchschnittlich fit. Doch die Zahl der Verkehrsunfälle ist zuletzt gestiegen – oft mit tödlichen Folgen. Häufige Ursache: Viele unterschätzen die Gefahren von Alkohol, Drogen und Ablenkung. Um darauf aufmerksam zu machen, weisen das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) e. V. mit Plakaten entlang der deutschen Autobahnen auf die lebensgefährlichen Risiken hin.
Der Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino ist Mitglied des Vorstandes des DVR und Leiter Verkehrspolitik beim ADAC. Wir haben ihn gefragt, woher diese Fehleinschätzungen kommen und wie sie sich verhindern lassen.
Woher kommt die Selbstüberschätzung vieler Verkehrsteilnehmender?
Ulrich Chiellino: Uns fehlt eine einheitliche Vorstellung davon, was eine gute Fahrerin oder einen guten Fahrer ausmacht. Zudem bekommen wir beim Autofahren kein regelmäßiges Feedback. Deshalb überschätzen sich viele. In anderen Lebensbereichen, wie zum Beispiel beim Sport hinterfragen wir uns mehr und versuchen, uns zu verbessern.
Woher sollte dieses Feedback kommen?
Gerade bei Fahranfängerinnen und Fahranfängern müssen wir ansetzen und dafür sorgen, dass sie ihr Können realistisch einschätzen. Feedback von Eltern, aus dem Freundeskreis oder durch Fahrsicherheitstrainings können dabei helfen. Aber auch erfahrene Verkehrsteilnehmende sind nicht davor gefeit, sich zu überschätzen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Alter, Fahrerfahrung und Selbstüberschätzung im Straßenverkehr?
Ulrich Chiellino: Selbstüberschätzung kann in jedem Alter auftreten, hat aber unterschiedliche Ursachen. Junge oder noch unerfahrene Verkehrsteilnehmende haben eine hohe Lernkurve und glauben schnell, alles im Griff zu haben.
Bei erfahrenen Fahrerinnen und Fahrern setzt dann oft schleichend eine „Erosion der Regelakzeptanz“ ein: Sie denken, die Regeln gelten nur für Fahranfängerinnen und -anfänger, aber nicht mehr für sie selbst.
Ältere Fahrende haben zwar viel Erfahrung, aber oft auch altersbedingte Einschränkungen. Viele haben gelernt, diese zu kompensieren, indem sie zum Beispiel langsamer fahren. Aber das gilt nicht für alle: Manche erkennen Defizite nicht oder wollen sie nicht wahrhaben. Dann wird es gefährlich.
Im Jahr 2023 gab es 15.652 Verkehrsunfälle mit Personenschaden unter Alkoholeinfluss. Warum setzen sich so viele Menschen selbst ans Steuer obwohl sie Alkohol getrunken haben?
Ulrich Chiellino: Alkohol wirkt sich in zweifacher Hinsicht negativ aus: Zum einen schränkt er die Wahrnehmung ein und verengt das Blickfeld. Zum anderen werden wir enthemmt und gehen mehr Risiken ein. Diese Kombination ist im Straßenverkehr extrem gefährlich. Viele Menschen sind der Meinung, sie hätten alles unter Kontrolle, weil sie an den Konsum von Alkohol gewöhnt sind. Aber das ist ein Trugschluss.
Wie ist es bei Cannabis?
Ulrich Chiellino: Personen, die wenig Erfahrung mit Cannabis haben, können die Wirkung und den Rauschverlauf nur schwer einschätzen. Gewohnheitskonsumierende hingegen könnten den falschen Eindruck haben, dass der Konsum ihre Fahrtüchtigkeit weniger beeinträchtigt, weil sie den Rausch als weniger stark wahrnehmen. Unabhängig vom Gewöhnungsgrad schränkt der Wirkstoff THC die Wahrnehmung und die Reaktions- und Koordinationsfähigkeit im Straßenverkehr ein.
Hohe Zahl von Verkehrsunfällen unter Drogeneinfluss
Im Jahr 2023 ereigneten sich mehr als 3.000 Verkehrsunfälle mit Personenschaden unter dem Einfluss von Drogen – Cannabis ist dabei die am häufigsten konsumierte und am häufigsten nachgewiesene Droge. 48 Menschen kamen dabei ums Leben, über 4.000 Menschen wurden dabei verletzt.
Ablenkung am Steuer kann schwere Unfälle verursachen. Welche Rolle spielt hier der Faktor Selbstüberschätzung?
Ulrich Chiellino: Wir sind daran gewöhnt, kurz aufs Handy zu schauen und machen die Erfahrung, dass meistens nichts passiert. Es wäre aber ein Irrglaube, das seinen eigenen „übernatürlichen“ Fähigkeiten zuzuschreiben. Denn es ging in der Realität oft nur deshalb gut, weil in dem Moment niemand dadurch gefährdet wurde. Also ein unbemerkter Fahrfehler nicht unmittelbar eine Kollision verursacht hat. Zudem kann auf unerwartete, kaum vorhersehbare Veränderungen nicht angemessen reagiert werden. Viele schwere Unfälle, bei denen Fahrende ohne äußere Einwirkung schleichend von der Spur abkommen, legen den Verdacht nahe, dass Ablenkung eine Rolle gespielt hat.
Ablenkung durch Smartphones ist weit verbreitet
55 Prozent aller Autofahrenden nutzen ihr Smartphone regelmäßig am Steuer. Bei den 18 bis 29-Jährigen sind es sogar 85 Prozent.
Gibt es weitere Faktoren, die unsere Einschätzung im Straßenverkehr beeinflussen können?
Ulrich Chiellino: Emotionen sind ein wesentlicher Faktor. Im Stress neigen wir dazu, Risiken schlechter einzuschätzen und vorschnell zu handeln. Ärger kann dazu führen, dass wir andere Verkehrsteilnehmende als Gegner sehen und aggressiver fahren. Auch Ungeduld ist gefährlich, wenn wir dann zu schnell und zu dicht auffahren. All das begünstigt eine Selbstüberschätzung, weil die Emotionen die Vernunft überlagern.
Warum unterschätzen viele die Gefahren trotz der hohen Unfallzahlen?
Ulrich Chiellino: Viele denken: „Mir passiert schon nichts.“ Dabei unterschätzen sie sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die möglichen Folgen eines Unfalls. Selbst kleine Unfälle können massive Auswirkungen haben. Zum Beispiel eine Fußverletzung: In der Statistik mag das nicht dramatisch erscheinen, aber für den Betroffenen bedeutet es monatelange Schmerzen, eingeschränkte Bewegungsfreiheit und verminderte Lebensqualität.
Was empfehlen Sie Verkehrsteilnehmenden, die sich selbst besser einschätzen möchten?
Ulrich Chiellino: Letztlich müssen sich alle bewusst machen: Darauf zu vertrauen, unfehlbar zu sein, ist die falsche Strategie. Niemand kann alle Gefahrensituationen beherrschen. Statt zu glauben, wir können einen Unfall noch verhindern, wenn eine Situation bereits außer Kontrolle geraten ist, sollten wir Risiken lieber von vornherein vermeiden.
Bleiben Sie selbstkritisch, hinterfragen Sie sich selbst immer wieder und bleiben Sie offen für Rückmeldungen – egal, wie lange man schon fährt.
Bilder: Shutterstock, ADAC/Steffi Aumiller, BMDV/DVR