Die Weggefährten

Daniel Stanitzky glaubt lange, er hat einen Jugendlichen totgefahren, bis er Florian Sitzmann zufällig wiedersieht.

28. Dezember 2018
7 Minuten

Florian Sitzmann liegt blutüberströmt auf der Autobahn. Seine Beine sind zerfetzt. Kleiderreste liegen herum. Regen prasselt auf ihn ein. Obwohl der 15-Jährige lebensgefährlich verletzt ist, hat er keine Schmerzen. „Ich war voller Adrenalin“, sagt er später. Bei vollem Bewusstsein nimmt er wahr, wie ein Mann seine Hand nimmt, wie Helfer ihm Mut machen und wie Sanitäter ihn in einen Krankenwagen hieven. Es ist kurz vor Mitternacht, am 31. August 1992, als Florian Sitzmann um sein Leben kämpft.

Stunden zuvor tritt er als Sozius auf einem Motorrad die Heimreise aus den Niederlanden an. Sein älterer Freund Stefan fährt die Maschine. Mehrere 100 Kilometer sind sie unterwegs. Vollkommen übermüdet halten sie an der Raststätte Hunsrück-Ost, an der Autobahn 61. Nach kurzer Pause steigen Florian und Stefan wieder auf die Maschine. Weit kommen sie jedoch nicht. Stefan begeht einen fatalen Fehler: Auf dem Beschleunigungsstreifen steuert er die Maschine zu früh in Richtung Fahrbahn – ohne den Lkw zu bemerken, der neben ihnen fährt. Das Motorrad touchiert den 40-Tonner, verliert die Bodenhaftung und rutscht weg. Stefan bleibt unbeschadet. Florian hingegen wird von den Achsen des Lkw überrollt.

Diesem Jungen kann niemand helfen.

Der Lkw-Fahrer, Daniel Stanitzky, denkt erst, er hat etwas verloren –  etwa Teile seiner Ladung. Den Seitenaufprall des Motorrads hat er nicht bemerkt. Der damals 25-Jährige hält an, steigt aus, sieht Florian auf dem Boden liegen und rennt zu ihm. Er nimmt die Hand des Verunglückten, will ihm Halt geben – und ein wenig auch sich selbst. „Gleich kommt Hilfe“, sagt Daniel. Was er wirklich denkt, aber nicht ausspricht: „Diesem Jungen kann niemand helfen.“

Florians Unterleib ist deformiert. Er verliert viel Blut und erleidet im Krankenhaus einen Herzstillstand. „In dieser Nacht war ich auf der anderen Seite. Manche behaupten, meine Überlebenschance lag bei eins zu 500.000.“ Dennoch soll ein Arzt ihn retten – Georg Adamidis, Chefarzt am Krankenhaus in Pirmasens. Der Chirurg reanimiert Florian und operiert ihn. Der Jugendliche wird in ein künstliches Koma versetzt. Prognose: ungewiss.

Von Florians Überlebenskampf bekommt Daniel Stanitzky nichts mit. Er steht noch am Unfallort, lehnt an der Leitplanke, blickt in den Himmel. Die Fahrbahn ist zu diesem Zeitpunkt längst gereinigt – als wäre nichts passiert. Daniel steigt wieder in seinen Lkw, denkt: „Die Fracht muss ans Ziel.“ Am Steuer beginnt er, die Geschehnisse zu verarbeiten: Hat er einen Menschen getötet? Einem Jugendlichen die Zukunft genommen? Daniel zittert, Tränen kullern über sein Gesicht. An der nächsten Raststätte fährt er ab und bricht zusammen. 

26 Jahre später

Das Jahr 2018, ein Tag im Dezember. Daniel und Florian sehen sich wieder. Es ist eines dieser Treffen, das sie immer wieder verabreden, um in Kontakt zu bleiben. In einem Park holen sie etwas frische Luft. Während Daniel zu Fuß geht, treibt Florian seinen Rollstuhl voran, durch Matsch, über kleine Wurzeln und Kieselsteine. Florian ist eine Erscheinung: Er hat das Kreuz eines Türstehers und Hände, die so groß sind, dass sie einen Fußball wie einen Handball umgreifen können. Sein Körper jedoch endet mit dem Becken.

„Jung müsste man sein.“

„Wie geht’s deinen Kids?“, will Daniel wissen. „Super. Emely wird immer erwachsener. Aber die Zwillinge halten mich echt in Atem.“ Florian holt sein Handy hervor, zeigt ein paar Bilder. „Wow, die spielen ja ordentlich im Dreck.“ Florian nickt: „Sie sind so unbeschwert. Jung müsste man sein.“

Ein Bild der Vergangenheit

Später besuchen sie ein Café. Florian legt ein Foto auf den Tisch. Es zeigt ihn selbst, im Alter von 15 Jahren, mit hochgestrecktem Daumen. Der Jugendliche wirft der Kamera ein Lächeln zu. Das Motiv ist eines der letzten Abzüge, das ein Leben auf zwei Beinen dokumentiert. Es wurde einen Tag vor dem Unfall aufgenommen.

Nachdenklich schaut Daniel auf das Bild: „Ich dachte, du bist tot.“ Der 52-Jährige nimmt das Foto in seine Hände, blickt kurz durch das Fenster und meint: „Was der Junge in seinem Leben wohl verpasst hat. Das habe ich mich oft gefragt.“ „Ach“, sagt Florian, dessen Mundwinkel sich zu einem Lächeln formen, „du willst gar nicht wissen, was ich mit 15 schon alles erlebt habe.“ 

Auch wenn Daniel derjenige ist, der Florian überrollt hat: Es gibt keine Vorwürfe, die zwischen ihnen stehen. Vielmehr sind es Gemeinsamkeiten, die sie verbinden: Beide sind Väter von drei Kindern. Beide spielen Gitarre, teilen die Leidenschaft für Autos. Florian genießt sein Leben. Und mittlerweile tut das auch Daniel – obwohl er nie für möglich gehalten hätte, dass er Florian je gegenübersitzen würde, überhaupt, dass er noch lebt.

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Sie blicken auf die Gegenwart, auf ein Bild von Florians Kindern, die im Matsch spielen.
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Umsteigen: Florian Sitzmann wechselt auf seinen SUV.
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Mit einer schnellen Bewegung wuchtet sich der 42-Jährige auf den Fahrersitz.
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Auto fahren: Eine Sache, die Florian Sitzmann genießt.
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Eine Fingerübung: Der 42-Jährige bedient sein Auto ausschließlich mit den Händen. Auf dem Beifahrersitz ...
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... hat Daniel Stanitzky Platz genommen. Gemeinsam fahren sie zum Park.
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Angekommen: Der 52-Jährige Daniel und der 42-Jährige Florian kurz vor dem Aussteigen.
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"Danke Daniel, ich komme klar." Höflich schlägt Florian Daniels Angebot aus, ihm zu helfen.
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Das Wetter ist trübe, die Luft frisch.
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26 Jahre nach dem Unfall drehen Daniel und Florian eine Runde in der Aachener Grünanlage.
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Sie blicken auf die Gegenwart, auf ein Bild von Florians Kindern, die im Matsch spielen.
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Umsteigen: Florian Sitzmann wechselt auf seinen SUV.

Florian wacht auf – an seinem 16. Geburtstag

Nach der Notfall-Operation liegt der 15-Jährige mehrere Tage im Koma. Von gebrochenen Beinen und einem Gips hat er geträumt. An seinem 16. Geburtstag schließlich wacht er auf – vor den Augen seiner Eltern. Florian spürt, dass seine Beine schwer sind. „Kannst du die mal anders legen?“ Sein Vater entgegnet: „Was meinst du, nachdem ein Lkw drüber gefahren ist?“ In dem Moment begreift der Jugendliche, was passiert ist. Er hat Phantomschmerzen. Seine Beine sind amputiert.

Florian weint. Tagelang. Wie sein Leben weitergeht? Das weiß er nicht. Irgendwann beginnt er, nach vorn zu blicken. Er übersteht 50 Operationen und absolviert eine zwei Jahre andauernde Reha. Florian Sitzmann – früher 2,04 Meter groß – rollt fortan durchs Leben. Für ihn ist es ein Startschuss. Er macht Sport, wird Handbiker. Bald ist er Deutscher Meister, Vize-Weltmeister und startet bei den Paralympics in Athen. Zwei Jahre später absolviert er ein 540 Kilometer langes Rennen in Norwegen, von Trondheim nach Oslo, in einer Zeit von 30 Stunden und 30 Minuten.

Sein Werk „Der halbe Mann“ erscheint

Von seiner Energie gibt Florian etwas ab. Er schreibt ein Buch mit dem Titel: „Der halbe Mann: Dem Leben Beine machen“. Ohne sich selbst und sein Schicksal zu ernst zu nehmen, berichtet er darin, warum er nie aufgibt. Warum er nach vorn blickt. Und dass ein Leben ohne Beine kein Leben ohne Halt bedeutet. Seine Geschichte inspiriert die Menschen. Er engagiert sich für Inklusion, reist um die Welt. Bald erobert er Bühnen und liest – begleitet von Live-Musik – aus seinen Publikationen. Florian Sitzmann, Autor, Geschäftsmann und Familienvater, ist längst eine Marke. Oft werde er gefragt, ob er einen Künstlernamen habe. „Nein. Der ist echt. Das passt irgendwie alles zusammen.“

Während Florian Sitzmann aufblüht, kämpft ein anderer mit der Vergangenheit. Daniel Stanitzky erkundigt sich nach dem Unfall in der Rechtsabteilung seiner Spedition, fragt, wie es dem Jungen geht. Jeden Freitag tut er das. Dann erreicht ihn die Nachricht: Florian ist tot. Ein Kollege hat es ihm beigebracht. Warum, weiß Daniel bis heute nicht. „Vielleicht wollte er mich schützen.“

Gefangen trotz Freispruch

Auch wenn Daniel für den Unfall nicht verantwortlich ist und ein Gericht ihn von jeder Schuld freispricht: Mit der Todesnachricht beginnt eine Leidenszeit. Daniel versucht, Florian in seinem Kopf zu begraben. Den Unfall zu vergessen. Doch es gelingt ihm nicht. Dagmar Urfels, Daniels Lebensgefährtin, erinnert sich: „Er hat sich immer weiter zurückgezogen. Ich bin einfach nicht mehr an ihn rangekommen.“

Daniel übt seinen Job als Lkw-Fahrer nach dem Unglück weiterhin aus. Doch irgendwann hat er Panikattacken. Regelmäßig bricht er am Steuer in Schweiß aus. „Ich hatte einfach Angst. Ich wusste gar nicht, warum.“ Der Leidensdruck wird so groß, dass er sich in psychologische Behandlung begibt. Er will etwas unternehmen, dem Gedanken etwas entgegensetzen, der sein Leben bestimmt und den er sich -immer wieder – insgeheim zuflüstert: „Ich bin der Mann, der den Jungen umgebracht hat.“ 

Daniel lässt die Tage verstreichen. Wie ein Zaungast blickt er auf sein Leben, dessen Teil er kaum noch ist. Dann, am 4. Februar 2011, passiert etwas Außergewöhnliches. Er schaltet den Fernseher ein und sieht die Talkshow „Plasberg persönlich“. In der Runde fällt ihm ein Gast auf. Dieser berichtet, in einem Rollstuhl sitzend, von einem Unfall: „Wir waren sehr müde. Es hat auch geregnet. Wir hätten besser sagen sollen: Komm, wir lassen es bleiben. Wir lassen uns abholen. Das haben wir aber nicht gemacht. Und so sind wir wieder aufs Motorrad gestiegen.“

Anzeichen der Müdigkeit

Im Auto, im Lkw oder auf dem Motorrad: Wenn Fahrer müde sind, erhöht sich das Unfallrisiko. Es droht Sekundenschlaf. In Situationen wie diesen sollten Fahrer eine Pause einlegen, etwa auf einem Parkplatz beziehungsweise an einer Raststätte. Ein Kurzschlaf von zehn bis 20 Minuten ist dann die beste Methode, um Kraft zu schöpfen. Grundsätzlich ist ein Stopp dringend notwendig, wenn Fahrer folgende Anzeichen bemerken:

 

  • häufiges Gähnen
  • brennende Augen
  • dichtes Auffahren
  • schwere Augenlider
  • Tunnelblick

Daniel regelt die Lautstärke hoch, schaut auf den Fernsehbildschirm, tief in Florian Sitzmanns Augen. Dieser erzählt weiter: „Stefan war sehr kraftlos. Beim Auffahren auf die Autobahn ist er zu weit nach links gefahren. Und von hinten kam ein 40-Tonner und hat mich ein bisschen an der Schulter angetippt.“ Weggerutscht sei das Motorrad, auch wegen der nassen Fahrbahn. Florian weiter: „Ich bin unter den Laster geflogen.“

Dieser Mann erzählt eine Geschichte, zu der ich gehöre.

Je mehr Daniel zuhört, desto sicherer ist er: „Dieser Mann erzählt eine Geschichte, zu der ich gehöre.“ Das ist der Junge, den er blutüberströmt auf der Fahrbahn entdeckt hat. Daniel schreibt Florian eine E-Mail: „Ich glaube, ich bin der Fahrer, mit dem du den Unfall hattest.“ Schnell ist klar: Beide wollen sich sehen. Im Frühling 2011 verabreden sie ein erstes Treffen. 

Florian lächelt, als Daniel ihm entgegengeht. Wieder sind es die Hände, die sich berühren - zum ersten Mal seit 19 Jahren. Daniel weint bitterlich. Florian zieht ihn zu sich, umarmt ihn: „Ist gut. Ist gut. Ist alles gut.“ „Es tut mir Leid“, flüstert Daniel in Florians Schulter. „Aber du kannst doch nichts dafür“, antwortet Florian. 

Daniel und Florian sind bis heute befreundet.

Bilder: Lucas Wahl