Sie stehen an Kreuzungen, Fahrbahnrändern und Einmündungen: Weiß lackierte Fahrräder, die nicht fahren – sondern erinnern. Mit den sogenannten Geisterrädern hat der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Berlin Orte des Gedenkens für tödlich verunglückte Radfahrer geschaffen. Nicht in verborgenen Räumen, sondern auf öffentlichen Straßen. Ein Besuch bei den Initiatoren.
Zwischen den Fassaden in Berlin versinkt allmählich die Sonne. Fußgänger eilen über die Bürgersteige. Autofahrer stehen im Stau. Radfahrer treten in die Pedale. Am Ende dieses Arbeitstages herrscht Hektik auf der Invalidenstraße. In diesem Treiben wirkt ein Gefährt wie aus dem Bild gefallen. Es steht auf dem Gehweg, festgekettet an einen kleinen Baum: ein weiß lackiertes Fahrrad. Am Rahmen hängt ein Schild, darauf steht: „Radfahrer. 22 Jahre. 14.07.2016.“
Genau hier ist es passiert. Im Sommer 2016 starb an dieser Stelle ein Radfahrer. Vom Gehweg kommend, fuhr er auf der Invalidenstraße in Richtung Chausseestraße. Er geriet in eine Straßenbahnschiene, verlor das Gleichgewicht und stieß mit dem Kopf gegen eine Tram. Kurze Zeit später kämpften Ärzte um sein Leben. Vergebens. Der junge Mann starb – im Alter von 22 Jahren.
Heute erinnert ein sogenanntes Geisterrad an das tragische Schicksal des jungen Mannes. Das Fahrrad wurde in einer Werkstatt des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) in Berlin-Mitte lackiert. Es ist der Ort, an dem Geisterräder für die Hauptstadt entstehen. Die Räume befinden sich unweit vom Unfallort entfernt. Immer wieder arbeitet Jürgen Saidowsky an neuen Exemplaren. So wie jetzt. Behutsam tupft der Verkehrssicherheits-Koordinator des ADFC Berlin mit einem Pinsel weiße Farbe auf ein ausgedientes Fahrrad. Jede Windung, jede Speiche und jedes Zahnrad wird von den Borsten berührt.
Erst vor kurzem ist wieder ein Radfahrer ums Leben gekommen.
„Man muss aufpassen, dass die Farbe gut verteilt ist“, sagt der 56-Jährige. Noch ein paar Pinselstriche. Dann ist es fertig: ein Fahrrad – weiß wie ein Blatt Papier. Saidowsky sagt, momentan sei das Modell für niemanden bestimmt. Doch allmählich lichte sich der Bestand an Geisterrädern. „Erst vor kurzem ist wieder ein Radfahrer ums Leben gekommen.“
Immer wieder rückt Saidowsky mit Helfern aus, um weitere Geisterräder aufzustellen. 2016 kamen 17 Radfahrer in Berlin ums Leben. Genauso viele Geisterräder wurden in der Hauptstadt aufgestellt – genau an jenen Orten, wo die tödlichen Unfälle geschahen. Die Modelle selbst stammen zum größten Teil aus Spenden. „Häufig handelt es sich um ausrangierte Räder. Die nehmen wir mit großer Dankbarkeit entgegen“, so der 56-Jährige. In der Werkstatt erfolgt schließlich die Verwandlung in ein Geisterrad.
Weiße Flecken im Alltag
Die weiß lackierten Fahrräder erinnern nicht nur an die Unfallopfer. Sie erinnern auch daran, wozu es nicht kommen soll, aber immer wieder kommt: zu tödlichen Unfällen. Die stillen Mahner fallen im Alltag auf und veranlassen Verkehrsteilnehmer, das eigene Verhalten zu hinterfragen.
Es geht nicht um Schuld
Die Aktion hält die Erinnerung an Todesfälle am Leben. „Uns geht es nicht um Schuldzuweisungen. Und auch nicht um unterschwellige Kritik an Autofahrern“, erklärt Nikolas Linck, Pressesprecher des ADFC Berlin. „Wir wollen einen Teil der Realität abbilden – und dazu zählen leider schwere Unfälle.“
Eine Idee aus den USA
Wer auf die Idee für die Geisterräder kam, ist ungewiss. Die ersten Modelle tauchten in den USA auf, in St. Louis im Bundesstaat Missouri. In Deutschland war es der ADFC Berlin, der die stillen Mahner zum ersten Mal als Organisation auf die Straße brachte. Anlass war der tragische Tod eines elfjährigen Radfahrers in 2009. Mittlerweile sind die weiß lackierten Räder deutschlandweit verbreitet, so auch in Hamburg, Leipzig, Rosenheim und Osnabrück.
408 Radfahrer sind 2016 auf Deutschlands Straßen gestorben.
Wie viele Radfahrer in Deutschland Jahr für Jahr ihr Leben verlieren, belegen Daten des Statistischen Bundesamtes. 2016 sind 408 Radler ums Leben gekommen – durchschnittlich mehr als eine Person pro Tag. Insgesamt kam es zu mehr als 81.000 Fahrradunfällen mit Personenschaden. Häufigster Unfallgegner ist dabei der Autofahrer – in 74,5 Prozent der Fälle. Etwa jeder vierte dieser Unfälle wurde durch den Radfahrer verursacht. Da die beteiligten Radler keine Knautschzone haben, tragen sie bei Kollisionen dieser Art häufig schwere Verletzungen davon.
Die Rücksicht für „schwächere“ Verkehrsteilnehmer erhöhen: Auch dafür gedenkt der ADFC mit der Aktion Geisterräder den getöteten Radfahrern. Früher musste der Fahrrad-Club in Berlin noch Genehmigungen einholen, um Geisterräder aufzustellen. Für jedes Modell ein eigener Antrag. „Mittlerweile“, erklärt Saidowsky, „ist das Vergangenheit.“ Die Initiative sei der Stadt bestens bekannt. Es herrsche wohlwollende Offenheit. Dennoch muss der Fahrrad-Club bestimmte Auflagen erfüllen. So dürfen die Geisterräder weder den Verkehr behindern, noch die Sicht beeinträchtigen oder Schilder verdecken.
Wird ein Geisterfahrrad aufgestellt, gibt es häufig eine kleine Zeremonie an dem Unfallort. Viele Menschen nehmen daran teil. Sie stellen Kerzen auf, verteilen Blumen und gedenken dem Opfer. Manch ein Angehöriger erfährt in den Medien von dem Ereignis – und nimmt an der Aktion teil. Einen direkten Kontakt zu den Hinterbliebenen sucht der Club jedoch nicht. Er bittet auch nicht um deren Einverständnis. „Die Opfer bleiben anonym. Grundsätzlich machen wir die Erfahrung, dass vor allem Freunde, Verwandte und Bekannte der Verstorbenen unser Engagement sehr schätzen“, sagt Saidowsky.
Zumutung für die Öffentlichkeit?
Auch wenn die Meinungen zur Initiative überwiegend positiv sind: Es gibt auch Kritik. Zumindest vereinzelt. „Manche werfen uns vor, das Straßenbild zu verschandeln“, berichtet ADFC-Sprecher Nikolas Linck. Einige hätten Angst vor Überfrachtung. Sie fürchten, dass bald an jeder Straßenecke ein Geisterrad steht. Linck gibt zu bedenken: Das Projekt sei eine Herausforderung – eine Gratwanderung. Einerseits wolle man erinnern. Andererseits wolle man die Freude am Radfahren erhalten.
Dass die Aktion der Öffentlichkeit zu viel zumutet, dieser Gefahr beugt der ADFC vor. Der Club zieht alte Geisterräder regelmäßig aus dem Verkehr. Zu sehen sind nur Fahrräder, die sich auf Opfer des aktuellen und vorangegangenen Jahres beziehen. Demnach sind in Berlin lediglich ein bis zwei Dutzend Modelle dieser Art zu sehen – so wenige, dass sie sich in einer 3,5 Millionen-Metropole fast verlieren.
Kuscheltiere am Rahmen
Für Jürgen Saidowsky ist die Arbeit mehr als ein Job. Die Aktion Geisterräder weckt Emotionen. Was ihn am meisten bewegt, ist nicht das Lackieren und auch nicht das Aufstellen der Geisterräder. Es ist das Einsammeln, das dem 56-Jährigen nahegeht. Nach einiger Zeit hängen an den Geisterrädern kleine Hinterlassenschaften: Kuscheltiere, Blumen, Abschiedsbriefe. Die Räder sind liebevoll gepflegt – fast wie ein Grab. „Diese Bilder schleppt man eine Weile mit sich herum“, sagt Saidowsky. Die Schicksale der Menschen beschäftigen den 56-Jährigen.
Einmal gab es einen Diebstahl.
Neben Mitgefühl ergreift Saidowsky manchmal ein weiteres Gefühl: Wut. Hin und wieder werden Geisterräder beschädigt oder gar gestohlen. „Einmal gab es einen Diebstahl“, erinnert sich Saidowsky. Was ihm dazu einfällt? „Nicht viel. Ich habe keine Ahnung, wie man auf so etwas kommt.“ Die Räder seien kaum fahrtauglich. Es sei unverkennbar, dass es sich um Mahnmale handle.
Saidowsky ist jemand, der das Radfahren liebt. Er verbindet ein Lebensgefühl damit, und er will andere Menschen dafür begeistern. Doch heute, als er den letzten Pinselstrich setzt, hat er andere Gedanken. Nachdem er mehrere Stunden in der Werkstatt verbracht hat, ist er fertig mit der Arbeit. Ein neues Geisterrad ist entstanden. Bevor er die Tür hinter sich schließt, blickt er kurz zum Fahrrad und sagt: „Hoffentlich bleibt es im Keller – so lange wie möglich.“
Bilder: Lucas Wahl
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