Eigentlich ist Ursula Kraus nervös. Doch das wird sie erst später zugeben. Als sie an diesem Donnerstagmorgen in der Sonne vor ihrem Haus im Berliner Westen Michael Borucu begrüßt, lässt sie sich nichts anmerken: Mit festem Händedruck, frischem Blick und einem freundlichen Lächeln empfängt sie den Fahrlehrer, mit dem sie die kommende Stunde durch Berlin fahren wird. Dass sie ausgerechnet an diesem Tag ihren ersten Unfall haben wird, hat Ursula Kraus zwar in der Nacht zuvor nur geträumt, ein wenig unwohl fühlt sie sich deswegen trotzdem.
Normalerweise bereitet Michael Borucu junge Menschen auf die Führerscheinprüfung vor. Das muss er bei Ursula Kraus nicht mehr tun, denn ihren Führerschein besitzt Ursula Kraus bereits seit 1957 – das Jahr, in dem die Berliner Willy Brandt zu ihrem Bürgermeister wählen und in dem der erste künstliche Satellit in die Erdumlaufbahn geschossen wird.
Nun, 2019, lebt Willy Brandt schon lange nicht mehr und um die Erde kreisen inzwischen mehr als 1400 weitere künstliche Satelliten. Ursula Kraus fährt noch immer Auto und fühlt sich fit. Sie geht regelmäßig zum Arzt, macht Sehtests und hat nicht das Gefühl hinter dem Steuer überfordert zu sein. Doch sie möchte Borucus ehrlichen Rat hören: Ist sie mit ihren 85 Jahren auch noch immer richtig und sicher im Pkw unterwegs?
„Ich scheue mich nicht, durch den Verkehr zu fahren. Und es macht mir noch Spaß“, sagt Kraus. Absichern möchte sie sich trotzdem – und hat sich deswegen an Michael Borucu gewandt. Der Fahrlehrer bietet für den ADAC in Berlin und Brandenburg Fahr-Fitness-Checks für Senioren an. Seinen Fahrschulwagen lässt er stehen, stattdessen nimmt er im Auto der Seniorin Platz.
Für Ursula Kraus ist es bereits das dritte Mal, dass sie einen Fachmann wie Borucu zur Kontrollfahrt auf den Beifahrersitz bittet. Das erste Mal suchte sie vor sieben Jahren Rat.
Ursula Kraus weiß: Nur weil jemand alt ist, fährt er deswegen nicht schlechter als jüngere Verkehrsteilnehmer. Schließlich altert jeder Mensch anders. Während der eine Einschränkungen bemerkt, etwa weil Lichtreflexe nachts blenden oder Entfernungen nicht mehr gut eingeschätzt werden, ist der andere noch voll leistungsfähig. Ursula Kraus hat ihre Fähigkeiten im Blick. Nachts im Dunkeln fährt sie dennoch kein Auto, weil sie sich unwohl fühlt. Tagsüber aber fühlt sie sich sicher. Und wenn es ihr tatsächlich mal nicht gut geht, dann setzt sie sich sowieso nicht ins Auto.
So schneiden Senioren statistisch im Verkehr ab
Senioren ab 65 Jahren sind seltener als andere Altersgruppen an Unfällen beteiligt. 2016 machten Senioren ab 65 Jahren 21,2 Prozent der Bevölkerung aus. An Unfällen mit Personenschaden waren sie 2018 aber nur zu 13 Prozent beteiligt. Hintergrund: Senioren nehmen weniger als jüngere Menschen am Straßenverkehr teil. Sie gehen nicht mehr täglich zur Arbeit und haben seltener einen Pkw. Insbesondere bei älteren Frauen ist das der Fall.
Schaut man in die Unfallstatistik, zeigt sich, dass Autofahrer ab 75 Jahren, die in einen Unfall mit Personenschaden verwickelt waren, in drei von vier Fällen (75,6 Prozent) auch Hauptverursacher waren.
Wenn er sagt, ich bin unsicher, werde ich aufhören.
Der Fahr-Fitness-Check soll keine Prüfung sein, kein Test. „Sie fahren uns jetzt einfach ein bisschen spazieren“, sagt Borucu. Alles so wie immer. Ursula Kraus hält ihre Hände dennoch fest am Lenkrad. Mit ihrem Blick fixiert sie den Verkehr vor sich, schaut häufig in den Seitenspiegel, in den Rückspiegel. Als wäre doch diese eine Frage bei ihr präsent: Was, wenn Michael Borucu nach der heutigen Fahrt findet, sie sollte das Auto künftig lieber stehen lassen?
Vor der Fahrt klingt es nach einer leichten Entscheidung: „Ich würde seinen Rat jederzeit annehmen“, sagt Kraus. „Wenn er sagt, ich bin unsicher oder mache Fehler, werde ich aufhören.“
Nie mehr hinters Steuer?
Auch Johanna und Heinrich Besuden haben sich diese Frage gestellt. Für das Ehepaar aus Oldenburg in Niedersachsen, sie 93, er 95 Jahre alt, beginnt vor drei Jahren ein langer Prozess.
Ein kleiner Sachschaden am Auto gibt Heinrich Besuden zu denken: Was, wenn es beim nächsten Mal nicht beim Sachschaden bleibt? Auf den Vorfall folgen Gespräche mit den Kindern und Enkelkindern: Sie plädieren dafür, dass er den Führerschein abgibt – in vielen Familien ein Tabuthema, nicht selten Ausgangspunkt von Streit. „Unsere Kinder sagen immer, was sie denken“, sagt Johanna Besuden.
Eine gute Voraussetzung, doch leichter ist die Entscheidung deswegen nicht. Es dauert Wochen, bis sie endgültig ist. „Man kann natürlich nicht leugnen, dass es nicht mehr so geht wie früher. So ganz habe ich das aber noch nicht eingesehen“, sagt Heinrich Besuden. Seine Mundwinkel deuten ein Lächeln ein.
Wer bietet Checks an?
Neben den Fahr-Fitness-Checks des ADAC gibt es weitere Institutionen, die Senioren helfen, ihr Fahrverhalten objektiv einzuschätzen: Dazu gehören Prüforganisationen wie die Dekra oder der TÜV. Auch die Fahrlehrerverbände haben eigene Angebote für freiwillige Mobilitäts-Checks.
Und auch der Hausarzt sowie Augenarzt sollte regelmäßige Gesundheits-Checks und Reaktionstests durchführen. Sprechen Sie mit dem Hausarzt auch darüber, ob Krankheiten bzw. Medikamente ihre Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen kann.
Ursula Kraus reiht sich unauffällig in den Verkehr ein, folgt dem Fluss, fährt zügig. Borucu beobachtet, gibt hin und wieder die Richtung vor. An einer Kreuzung mischt er sich dann doch einmal ein. Die Ampel ist gerade grün geworden, Ursula Kraus will links abbiegen, fährt über die Wartelinie an der Ampel in die Kreuzung ein.
Ein Fahrzeug kommt entgegen, der Fahrer will ebenfalls links abbiegen. Ursula Kraus hält sich rechts, um hinter dem Wagen abzubiegen. „Vorsicht“, sagt Michael Borucu ruhig. „Wir biegen voreinander ab.“ Borucu bedeutet Ursula Kraus mit der linken Hand, sich weiter links zu halten.
Es sind genau solche Situationen, die in der Gruppe der Senioren ab 65 Jahren bei Unfällen eine Rolle spielen: Fehler beim Abbiegen, bei Wendemanövern oder der Vorfahrt.
Borucus Rat an Ursula Kraus
Je länger die Fahrt dauert, desto sicherer wird Ursula Kraus, die Finger umfassen das Lenkrad nicht mehr ganz so fest, ihr Blick ist nicht mehr ganz so starr. Als sie vorschriftsmäßig an einem grünen Pfeil hält, der trotz roter Ampel dazu berechtigt, rechts abzubiegen, hupt ein Autofahrer hinter ihr. Kraus nimmt‘s gelassen. „Gut“, lobt Borucu, „nicht aus der Ruhe bringen lassen.“
Im Anschluss an die Fahrt hat er nur einen Rat: An Kreuzungen immer erst an der Wartelinie halten und langsam in die Kreuzung vortasten, wenn der Weg frei ist – damit eine Lücke für den querenden Verkehr bleibt, wenn wieder rot wird. Sonst: keine Beanstandungen. Auch keine der typischen Einschränkungen, die er immer wieder beobachtet: falsch eingestellte Spiegel, Schwierigkeiten beim Schulterblick. Nichts. „Frau Kraus hat das super gemacht“, sagt Borucu.
Der Fahrlehrer hat keine Bedenken, dass Kraus weiter Pkw fährt – ein Urteil, dass er bei den meisten Teilnehmern des Fahr-Fitness-Checks fällt. „Zu uns kommen nur die Vernünftigen“, sagt Michael Borucu. In drei von 100 Fällen, schätzt er, rät er den Teilnehmern dazu, das Autofahren bleiben zu lassen. „Da fließen dann auch mal Tränen“, sagt er. Es ist genau die Situation, vor der die meisten Angst haben. Einige ahnen, dass sie eingeschränkt sind, scheuen sich aber vor einer professionellen Einschätzung, die das bestätigt.
Allerdings: Die Ratschläge des Checks sind nicht verbindlich. Borucu hat keine Berechtigung, den Führerschein einzuziehen oder den Fahrer anzuzeigen. „Wir sprechen nur Empfehlungen aus“, sagt Borucu. Außerdem werde alles, was im Auto besprochen wird, vertraulich behandelt. „Das bleibt unser Geheimnis.“
Wenn Fahrlehrer die Fähigkeiten von Senioren beurteilen, ist es immer eine Momentaufnahme. Der Gesundheitszustand kann sich im hohen Alter schnell ändern. Daher ist das Verantwortungsbewusstsein der Senioren gefragt.
Wer den Führerschein abgibt, bekommt etwas zurück
Heinrich Besuden kann nachvollziehen, wovor sich viele Ältere fürchten. „Man fühlt sich eingeschränkt und nicht mehr ganz vollwertig“, sagte er. Vor allem für jemanden wie ihn, der noch bis vor zwei Jahren zwei bis drei Mal die Woche Volleyball gespielt und eine knappe Stunde Autofahrt zur Nordseeküste allein bewältigt hat. „Das ist psychisch ein unangenehmes Gefühl.“ Auch deswegen hat er den Führerschein behalten. Aufs Autofahren verzichtet der emeritierte Professor trotzdem, wie auch seine Frau. Freiwillig.
Die Besudens setzen sich nun nur noch ins Auto, wenn jemand anderes sie fährt – die Kinder etwa, die Enkel oder Freunde. Den Platz hinter dem Steuer haben sie seit zwei Jahren aufgegeben.
Johanna Besuden hat auch den Weg zur Führerscheinstelle der Stadt angetreten – und ihren Führerschein abgegeben. Im Gegenzug bekam sie Tickets für den Nahverkehr. „So einen Stapel Busfahrkarten“, sagt sie und deutet zwischen Daumen und Zeigefinger die Größe des Bündels an. 40 Einzelfahrscheine gewährt die Stadt Oldenburg – oder 50 Prozent Rabatt auf eine Jahreskarte. Eine sinnvolle Idee, findet Johanna Besuden. „Das erleichtert den Übergang.“ Auch viele andere deutsche Städte bieten ähnliche Vergünstigungen an.
Wie lang Führerscheine in anderen europäischen Ländern gültig sind
Uneingeschränkte Gültigkeit haben die Führerscheine nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Nachbarländern Polen sowie in Österreich und Frankreich. Der neue EU-Führerschein muss zwar nach 15 Jahren erneuert werden – dazu ist jedoch keine Gesundheits- oder erneute Fahrprüfung nötig. Die Erneuerungspflicht hat vor allem den Zweck, das Dokument aktuell zu halten.
Allgemein beschränkt gültig ist der Führerschein in Schweden – nämlich für zehn Jahre. Dabei kann seitens der Behörden ein ärztliches Attest eingefordert werden.
Medizinische Überprüfungen älterer Verkehrsteilnehmer werden in verschiedenen Ländern Europas verlangt, darunter Dänemark, Italien, die Niederlande, Tschechien sowie Spanien und Portugal. Die Altersgrenzen und Zeitabstände der Überprüfungen bzw. Erneuerungen sind dabei unterschiedlich. Während Autofahrer in Spanien ab 65 Jahren ihre Fahrerlaubnis alle fünf Jahre erneuern müssen, reicht in Dänemark ab 75 Jahren ein ärztliches Attest aus.
Für Ursula Kraus sind die öffentlichen Verkehrsmittel nicht die beste Alternative. Obwohl sie in der Stadt wohnt, ist die nächste S-Bahn-Station eine gute Viertelstunde Fußweg entfernt, bei zügigem Schritt. Lange Strecken zu laufen, ist für Ursula Kraus beschwerlich: Die Belastungen sind meist zu viel für Hüfte und Rücken. Zum Einkaufen geht sie trotzdem.
Aber Bekannte treffen, die Kinder besuchen, die außerhalb Berlins wohnen: Das würde für Frau Kraus nicht mehr so spontan wie bisher gehen, wenn sie ihr Auto bzw. den Führerschein abgibt. „Es gibt ja auch noch Taxis“, sagt sie mit Blick in die Zukunft.
In Oldenburg sind die Wege kürzer als in der Hauptstadt. Johanna Besuden kann die Einkäufe gut selbst erledigen. Der Supermarkt ist nur drei Straßen und eine Fußgängerampel entfernt – ein guter halber Kilometer. „Ich bin ja noch gut zu Fuß“, sagt sie. Wenn aber doch mal ein Auto nötig ist, dann setzen auch die Besudens inzwischen häufiger aufs Taxi. Fahrten zum Arzt übernimmt die Krankenkasse, alle anderen Strecken müssen sie selbst tragen. „Man sollte weniger Hemmungen haben, ein Taxi zu bestellen, wenn es nötig ist“, findet Heinrich Besuden. Und weitere Strecken lassen sich meist gut mit der Bahn bewerkstelligen. Gemessen an den Kosten für ein eigenes Auto und den Risiken, selber zu fahren, sei das Taxi aber eine sinnvolle Alternative.
Von der Einsparung der Fahrzeugsteuer und -versicherung sowie der Benzin-, Reparatur- sowie TÜV-Kosten lassen sich schon recht viele Taxi-Fahrten oder ÖPNV-Tickets bestreiten. Und meist bringt der Verkauf des Autos auch noch zusätzliches Geld ein. Fahrlehrer Michael Borucu hat schon häufig gehört, dass Senioren, die ihr Auto abgeschafft haben, erst später merken, wie sehr sie das Fahren zuletzt angestrengt hat. Viele ältere Pkw-Fahrer und -Fahrerinnen sind dann sehr erleichtert, wenn sie alternative Mobilitätsangebote gefunden und sich daran gewöhnt haben.
Weiterführende Links
sicher mobil. Ein Programm des DVR für Menschen ab 65
Bilder: Roman Pawlowski