Frau Lammert, Sie leiten eine Beratungsstelle für Frauen und Familien in Magdeburg. Mit Autofahren haben Sie eigentlich ursprünglich nichts zu tun. Dennoch sind Sie auf die Idee gekommen, den „Autoclub für Angsthäsinnen“ zu gründen, eine Fahrschule in Magdeburg speziell für Frauen, die sich vorm Autofahren fürchten. Warum?
Da muss ich Sie ein wenig korrigieren. Wir haben keine Fahrschule gegründet, sondern aus unseren alltäglichen Gesprächen mit Frauen festgestellt, dass viele von ihnen Angst vor dem Pkw-Fahren haben. Diese Frauen hatten aber alle ihren Führerschein erfolgreich bestanden. Unser Angebot zielte darauf ab, ihnen die Angst zu nehmen.
Wovor hatten sie Angst?
Da muss ich etwas weiter ausholen: Nach der Wiedervereinigung haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Osten radikal verändert; für viele verschwand mit der DDR auch das Selbstwertgefühl. Vor allem der Arbeitsplatzverlust trieb Frauen um. In der DDR erreichten sie die Arbeitsstelle meist mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn. Nun aber entstanden Firmen, die weiter weg lagen.
Deshalb mussten Frauen auf das Auto ausweichen…
Ja. Und daraus ergaben sich Probleme: Viele Frauen saßen bei Bewerbungen vor ihrem Personalbogen und grübelten über der Frage: „Haben Sie einen Führerschein?“ Sie wussten nicht, ob sie den angeben sollten, weil dann natürlich erwartet wird, dass sie ihn auch nutzen. Da habe ich gesagt: Dagegen müssen wir etwas unternehmen. Deswegen haben wir im November 1995 unseren „Autoclub für Angsthäsinnen“ gegründet.
Warum haben Frauen mit dem Autofahren gehadert?
In der DDR war das Auto ein Heiligtum. Für einen Trabanten hat man lange gespart. Dann musste man oft etwa zehn Jahre warten, bis der Wagen geliefert wurde. War es dann so weit, saßen die Männer am Steuer. Ein eigener Pkw war der Stolz des Autofahrers. Der Wagen wurde auch eher für besondere Anlässe genutzt: etwa Wochenenden mit der Familie im Grünen oder für Urlaube. Frauen sind höchstens gefahren, wenn sie ihre Männer von einer Feier abholten. Und dann durften sie sich meistens kritische Kommentare anhören. Manche Männer haben ihre Frauen psychologisch richtig fertig gemacht. So etwas prägt. Die Angst baut sich allmählich auf – und wird immer stärker.
Ging es nur ostdeutschen Frauen so?
Später habe ich festgestellt, dass auch viele westdeutsche Frauen Angst vorm Fahren hatten. Auch in den alten Bundesländern waren Autofahrerinnen gewöhnt, dass Männer flach atmeten und negative Kommentare abließen. Das Auto war als männliches Prestigeobjekt etabliert. Ich würde sagen, zu 80 Prozent waren es Ehemänner, die die Fahrangst der Frauen verursachten.
Und die restlichen 20 Prozent?
Weiblicher Perfektionismus. Bei uns in den Kursen waren die meisten Frauen gut qualifiziert: Lehrerinnen, Arbeitsgruppenleiterinnen, Unternehmerinnen. „Gestandene“ Frauen mit anspruchsvollen Berufen. Etwas nicht „im Griff“ zu haben, passte nicht ins Bild, das diese Frauen von sich hatten. Mit Blick auf das Autofahren redeten sie sich oft ein, nicht perfekt zu sein und das Fahrzeug nur mangelhaft zu beherrschen; auch wenn das objektiv gar nicht der Fall war. Ich erinnere mich an eine Clubhausleiterin: Die hatte zig Angestellte; war eine toughe Frau. Aber wenn sie nachts um eins ihr Lokal abschloss, hat sie ein junges Mädchen gefragt, ob sie sie mit nachhause nehmen könne. Die kam ganz aufgelöst zu uns und sagte: Ich möchte nicht mehr diese wahnsinnige Angst haben. Bei einer Chemie-Lehrerin war es das gleiche Problem. Sie hat sich wahnsinnig geschämt, dass sie das nicht „richtig“ kann. Vor allem ihre Schüler sollten das nicht mitkriegen.
Ihre Initiative war eine bundesweite Premiere. Wie waren die Reaktionen?
Unser Glück war, dass die Presse früh auf uns aufmerksam wurde und über den Autoclub berichtete. Daraufhin haben uns viele Frauen kontaktiert; nicht nur aus Magdeburg, sondern aus ganz Deutschland. Sie riefen zaghaft an und fragten, ob sie teilnehmen dürften. Bei Frauen aus den alten Bundesländern waren es meistens private Gründe, warum sie sich ihrer Angst stellten: Etwa, weil der Mann krank oder schon gestorben war. Da wurde ihnen bewusst, wie sehr sich die Reichweite verkleinert, wenn man kein Auto fährt.
Wie sind Sie praktisch vorgegangen? Sie hatten ja nicht einmal einen Fahrlehrer...
Das stimmt. Wir hatten keine Fahrlehrer, sondern Fahrbetreuer. Die haben wir durch unsere soziale Arbeit in der Beratungsstelle gefunden. Bei der Auswahl war uns wichtig: Wenn es hauptsächlich Männer waren, die die Angst begünstigten, sollten es auch Männer sein, die die Angst wieder lösen. Das Fahrtraining bei uns findet bis heute komplett im eigenen Auto statt; da gibt es keine zweite Bremse wie in den Fahrschulen. Die Fahrbetreuer müssen sich auf die Frauen also verlassen. Das schafft Vertrauen.
Wenn es hauptsächlich Männer waren, die die Angst begünstigten, sollten es auch Männer sein, die die Angst wieder lösen.
Wie läuft der Unterricht ab?
Das Programm dauert eine Woche. Sonntags kommen die Frauen an. Häufig holen die Fahrbetreuer die Frauen auch von zuhause ab; weil sie ja im eigenen Auto üben sollen. Dann treffen wir uns mit ihnen und stellen das Programm für die Woche vor. Überhaupt zu kommen, ist für viele Frauen die erste Hürde. Am Montagmorgen beginnen wir dann mit der Vorstellungsrunde: Jede Teilnehmerin berichtet über ihre Erwartungen und ihre Angst. Oft sind Frauen überrascht, wie sehr sie sich in diesem Gespräch öffnen und über private Dinge erzählen. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis für sie. Wenn die Teilnehmerinnen merken: Mensch, bei der ist es ja auch nicht anders.
Wann fahren sie auf die Straße?
Im Anschluss an die Vorstellungsrunde hält eine Ärztin einen Vortrag über die Ursachen der Angst, danach machen wir eine Stunde Theorieunterricht zum Auffrischen der Straßenverkehrsordnung: Da legen wir Spielmatten auf den Tisch und üben beispielsweise die Vorfahrtsregeln. Dann geht es mit dem Fahrbegleiter auf einen großen Parkplatz. Dort wird so lange geübt, bis der Fahrbegleiter entscheidet: Diese Frau fährt gut; sie kann jetzt auf die Straße. Bei manchen dauert das einen halben Tag; bei anderen drei.
Auf Ihrer Website sprechen Sie von „Fahrtraining mit einfühlsamer Begleitung“. Wie meinen Sie das genau?
Wir konzentrieren uns auf die individuellen Ängste der Frauen. Das heißt, wir bieten ihnen Raum für ihre persönlichen Sorgen und ermutigen sie, Fragen zu stellen und über Gefühle zu sprechen. Irgendwann hat eine Teilnehmerin mal gesagt: „Können wir nicht einmal an die Tankstelle fahren? Ich weiß gar nicht, wie man richtig tankt.“ Also sind wir an die Tankstelle gefahren. Und dann hat sie die Waschanlage gesehen und gesagt: „Können wir nicht auch noch durch die Waschanlage fahren? Davor habe ich auch Angst.“ Von dem Zeitpunkt an haben wir das in unseren Plan fest integriert. Oder auffahren auf die Autobahn und einfädeln: Das ist für viele ein großes Thema. Das haben wir auch recht schnell angeboten. Irgendwann haben wir gedacht: Es wäre super, wenn die Frauen auch eigenständig Reifen wechseln. Also haben wir Kontakt zu einem Autohaus aufgenommen und unser Anliegen erklärt. Seitdem bringt an einem Nachmittag in der Woche ein Schlosser unseren Frauen das Reifen Wechseln bei. Aber der wichtigste Schritt ist, dass wir sehr früh auf psychologische Probleme eingehen. Die Ärztin, mit der wir kooperieren, bietet auch Einzelgespräche an. Das hilft vielen Frauen sehr; weil sie allein von Berufswegen eine natürliche Vertrauensperson ist. Viele unterhalten sich während der Woche auch mehrmals mit ihr.
Die Ärztin, mit der wir kooperieren, bietet auch Einzelgespräche an. Das hilft vielen Frauen sehr.
Wissen Sie, wie es mit Ihren Teilnehmerinnen nach dem Programm weiterging?
Wir haben inzwischen hunderte Rückmeldungen von Frauen, dass ihnen der Kurs geholfen hat. Viele schreiben auch Postkarten aus dem Urlaub, in den sie selbst mit dem Auto gefahren sind. Zu manchen habe ich heute noch eine freundschaftliche Verbindung; auch wenn der Kurs schon viele Jahre zurückliegt.
Wie viele Frauen wenden sich heute noch an Sie?
Tatsächlich haben wir die letzte „Angsthäsin“ vor zwei Jahren im Einzeltraining betreut. Die Frauen sind zum Glück viel selbstbewusster geworden. Sie lassen sich nicht mehr so schnell von den Männern einschüchtern. Und die Haltung zum Auto hat sich komplett verändert: Heute ist es viel mehr ein praktischer Gebrauchsgegenstand, was es ja auch sein sollte. Dennoch bin ich überzeugt: Es gibt noch Angsthäsinnen. Und die dürfen sich jederzeit bei uns melden!
Hatten Sie selbst Angst vorm Fahren?
Nein, nie. Ich habe gleich mit 18 den Führerschein gemacht. Ich hätte auch gerne einen Lkw-Führerschein wie mein Bruder – darum habe ich ihn sehr beneidet. Ich habe dann aber einen Motorroller gehabt; für ein Auto fehlte mir damals das Geld. In dieser Zeit lernte ich auch meinen Ehemann kennen. Durch mich und meinen Roller wurde er angestachelt, ebenfalls den Führerschein zu machen. Ich habe oft mit ihm geübt. Ich weiß, dass das eigentlich verboten ist; aber inzwischen ist das hoffentlich verjährt (lacht).
Frau Lammert, vielen Dank für das Gespräch!
Bilder: Shutterstock, privat